Theater der Zeit

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Auftritt

Uckermärkische Bühnen Schwedt: Die Scham muss die Seite wechseln

„Scherben“ frei nach Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ – Regie Lily Kuhlmann, Bühne und Kostüme Anke Fischer

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Heinrich von Kleist Uckermärkische Bühnen Schwedt

Anna Luise Barth als Eve in „Scherben“, Regie Lily Kuhlmann. Foto Dina Schein
Anna Luise Barth als Eve in „Scherben“, Regie Lily KuhlmannFoto: Dina Schein

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Anna Luise Barth stolpert als Richter in ein Klassenzimmer der Gesamtschule Talsand in Schwedt/Oder. Sie fällt vor lauter Eile über das richterliche Gewand und steht hastig wieder auf. Es folgt eine krude Geschichte über das Verschwinden einer Perücke, den Kampf mit einem Ziegenbock und den zerrissenen Bund einer nassen Hose. Nach einer Weile legt Barth das Gewand ab und nimmt in den Reihen zwischen den Schüler:innen Platz: „Ich hätte schon ein paar Fragen“, interveniert sie ihr eigenes Gebrabbel. Die wichtigste unter ihnen: Wie kann es eigentlich sein, dass erwachsenen Männern, die schlechter lügen als kleine Kinder, trotzdem immer geglaubt wird?

Regisseurin Lily Kuhlmann macht genau dieses Problem zum Ausgangspunkt ihres Klassenzimmerstücks „Scherben“ – eine Adaption von Heinrich von Kleists Klassiker „Der zerbrochne Krug“. Denn Kuhlmann hat viele Fragen an das 1811 erschienene „Lustspiel“, die dringend in einem Klassenzimmer besprochen werden sollten: Weshalb schafft es Eve nicht, das Erlebte zur Sprache zu bringen? Was liegt im Schweigen dieser Figur verborgen?

Kuhlmanns Inszenierung nähert sich solchen Fragen, indem das Geschehen in zwei ineinandergreifende Ebenen geteilt wird: Auf der einen Seite steigt Anna Luise Barth – in einem zügigen Wechsel zwischen den Figuren – in die dialogischen Szenen des Dramas ein; auf der anderen Seite begleitet sie das Geschehen anhand eines gesprochenen inneren Monologs, der dem Ungesagten und Überhörten des Stoffes einen Raum eröffnet. Denn das Sprechen über sexualisierte Gewalt ist nicht leicht. Oft führen Schuldgefühle und Scham zu einem Verstummen der Betroffenen. Oft verhindern Ängste, dass Betroffene ihr Schweigen brechen können. „Scherben“ widmet sich diesem Zustand mit liebevoller Vorsicht; sucht nach Bildern, die im anschließenden Nachgespräch das Schweigen überwinden. So spielt sich die erste Szene der Inszenierung beispielsweise nicht zwischen zwei Figuren des Kleist’schen Dramas ab, sondern zwischen Barth und einer in dasselbe Rot gekleideten Puppe ab – oder anders: zwischen Eves innerem und äußerem „Ich“:  Die Tür des Klassenzimmers geht auf. Barth rollt die Puppe herein und legt ihr einen Zettel in die steife Hand. Die Puppe schweigt. Barth wartet unruhig darauf, dass die Puppe verliest, was auf dem Zettel steht. Doch die Puppe schweigt immer noch. Im Anschluss arbeitet sich die Inszenierung Schritt für Schritt durch die Handlung des Kleist’schen Stoffes und langsam wird deutlich, warum die Puppe schweigt: Eve wird übergangen. Ihr wird gezielt nicht zugehört.

Am Ende steht Barth dann noch ein zweites Mal mit ihrem Zettel vor der Klasse. Aber dieses Mal schweigt die Puppe nicht. Dieses Mal erzählt Eve, was eigentlich in der Nacht geschah, in der der Krug zerbrach. Sie kommt zu dem Schluss: „Die Scham muss die Seite wechseln!“ Der Satz ist ein Zitat der Französin Gisèle Pelicot, die über viele Jahre von ihrem Ehemann und zahlreichen weiteren Männern systematisch vergewaltig wurde und im Prozess gegen ihren Ex-Mann an die Öffentlichkeit getreten ist. Pelicot verweist mit ihrer Aussage auf die Erkenntnis, dass es sich bei Scham um ein Gefühl handelt, das nicht den Opfern, sondern den Tätern gehören sollte. „Das ist euer Gefühl, nicht meins“, stellt Eve schließlich fest und bricht das Schweigen ihrer Figur.

Im Nachgespräch fragt der Dramaturg und Theaterpädagoge Franz Kießling die Schüler:innen zunächst ganz offen nach ihren Eindrücken: Was wurde nicht verstanden? Was war gut? Was ist aufgefallen? Schnell entsteht ein Gespräch. Figuren werden beschrieben und analysiert, Zusammenhänge nachvollzogen und interpretiert. Als Kießling allerdings gezielt danach fragt, was Richter Adam in der Nacht, in der der Krug zerbrach, denn genau von Eve verlangt habe, wird es merklich stiller im Klassenzimmer. Und plötzlich ist sie da: die Scham. Die Hemmungen, das Unausgesprochene auszusprechen – es konkret zu benennen. Doch Kießling weicht den Emotionen im Raum nicht aus; vielmehr bestärkt er die Schüler:innen darin, in ein Sprechen zu kommen. Und mit jeder Wortmeldung der Schüler:innen wird es konkreter; bis es schließlich gemeinsam benannt ist: Der Richter hat sexuelle Gewalt ausgeübt, indem er seine Machtposition eingesetzt hat, um Eve zum Sex zu drängen. Das zu verbalisieren ist wichtig. Denn die Schamgefühle dürfen nicht übergangen werden, sondern die Scham muss die Seite wechseln. Es muss gesprochen werden, damit nicht geschwiegen wird.

Erschienen am 2.10.2025

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