Theater der Zeit

Auftritt

Theater Münster: Fatma wird gehört

„Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter – Regie Ruth Mensah, Bühne Yuni Hwang, Kostüme Shayenne di Martino, Musik Paul Müller Reyes

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Ruth Mensah Theater Münster

Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Daryna Mavlenko und Melek Erenay in „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter am Theater Münster. Foto Birgit Hupfeld
Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Daryna Mavlenko und Melek Erenay in „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter am Theater MünsterFoto: Birgit Hupfeld

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Die Geschichte des Buches selbst klingt fast wie ein Märchen. Da veröffentlicht ein weitgehend unbekannter Autor bei einem mindestens ebenso unbekannten Verlag einen Roman, der streng genommen gar keiner ist. Sondern eine Mischung aus Poesie und Erzählungen, Fantasie und Realität, Alltagssprache und hoher Kunst. Aber Dinçer Güçyeter hat einen Nerv getroffen, indem er unter anderem seine Mutter zu Wort kommen lässt, eine von vielen Türkinnen, die nach Deutschland ausgewandert sind, ihrem Mann folgend, der als sogenannter Gastarbeiter angeheuert. Eine von vielen Frauen, denen bisher kaum jemand zugehört hat. „Unser Deutschlandmärchen“ heißt das Buch und bekam den Preis der Leipziger Buchmesse 2023. Seitdem ist Dinçer Güçyeter auf umjubelter Lesereise durch Deutschland, das Gorki Theater in Berlin spielt eine erste Theaterversion. Nun folgt Münster, im Januar hat eine weitere Fassung in Aachen Premiere. Alle wollen Fatma hören, die Mutter des Autors. Und Fatma hat viel zu erzählen.

Es sind Geschichten, wie sie bisher selten zu hören waren. Fatma ist überrascht, als sie in der Bank kein Geld mehr bekommt, weil ihr Mann einfach, ohne sie zu fragen, Schulden gemacht hat. Und sich mit dem Geld zu Hause in der Türkei übers Ohr hauen lässt. Sie erzählt von der Arbeit nach der Arbeit, vom Hauptjob geht Fatma direkt in die Kneipe, die ihr Mann eröffnet hat, putzt und spült. Die menschlichen Arbeitsmaschinen, denen kein Job zu schwer ist – ein wahres Klischee, hier sieht man die Erschöpfung dahinter. Fatma ist nicht die Einzige, die zu Wort kommt. Auch Dinçer selbst erzählt von den verschiedenen Welten, in denen er aufwächst, von seiner Sehnsucht, ans Theater zu gehen. Dann übernimmt seine Großmutter Hanife das Wort, Tochter einer Nomadin. Das alles geht – auf der Bühne wie im Buch – quer durch die Zeiten, ein Fluss aus Bildern, Schicksalen, Episoden, komisch, tragisch, analytisch und berührend, das pralle Leben.

Vor einem weißen Rundhorizont, der die Fantasie des Publikums öffnet, stehen die Frauen in traditionellen Trachten und Fantasiekleidern. Alaaeldin Dyab ist als Dinçer der einzige Mann im Ensemble. Am Anfang entkleidet er sich bis auf eine fleischfarbene Unterhose, der Abend beginnt mit seiner Geburt. Es gibt Konflikte zwischen ihm und seiner Mutter. Als Vertreter der sogenannten zweiten Generation in Deutschland, in Nettetal geboren, hat Dinçer ein anderes Gefühl für seine Möglichkeiten. Melek Erenay spielt Fatma mit Autorität und verborgener, aber sehr wahrnehmbarer Verletzlichkeit. Manchmal wechselt sie in die türkische Sprache.

Der Titel „Unser Deutschlandmärchen“ erhebt den Anspruch, dass es sich um mehr als einen biografischen Text handelt. Das löst die Aufführung am Theater Münster schon damit ein, dass neben Melek Erenay keine türkischstämmigen Spieler:innen auf der Bühne stehen. Alaaeldin Dyab kommt aus Syrien, Agnes Lampkin ist in Großbritannien und in der Schweiz aufgewachsen, Katharina Rehn ist Deutsche. Und Daryna Mavlenko, die zwischendurch am E-Bass dem Abend einen rockig-rauen Rhythmus gibt, stammt aus der Ukraine. Regisseurin Ruth Mensah gibt dem Ensemble Raum, die eigene Persönlichkeit einzubringen. Das verschiebt nicht den Fokus auf türkische Migrationsgeschichten, bereichert aber die Inszenierung.

Wie im Buch gibt es schmerzhafte Momente. Und dennoch bleibt der Tonfall freundlich, offen, zugewandt. Die junge Regisseurin schafft es, auf den Punkt zu kommen. Die anderthalb Stunden sind enorm kurzweilig. Als ich gemerkt habe, dass die Aufführung auf ihr Finale zusteuert, war ich überrascht. Und natürlich war es ein Höhepunkt, als der Autor mit Mutter Fatma am Arm bei der Premiere auf die Bühne kam. Aber auch ohne diese persönliche Anwesenheit ist es gelungen, die Lebensgeschichten poetisch und klar zu erzählen. Theater mit einem Anliegen, das seine Botschaft dem Publikum nicht um die Ohren pfeffert. Theater, das ohne Vorwissen direkt verständlich ist und sich durchaus Komplexität traut. Ein enorm wirklichkeitshaltiges Deutschlandmärchen.

Erschienen am 5.11.2024

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