Ballhaus Naunynstrasse
Das Ballhaus Naunynstraße steht für eine künstlerische Praxis, die die deutschsprachige Theaterlandschaft nachhaltig verändert hat: das postmigrantische Theater.
In diesem Ballsaal im Herzen Kreuzbergs, in dem einst Royalist*innen tanzten, Anarchist*innen ihre Treffen hatten, der in der NS-Diktatur zum Zwangsarbeiter*innenlager wurde und im Kalten Krieg, in der Nähe der Grenze, zur Resonanzlosigkeit verurteilt war und der fast für die Vision einer Autostadt hätte weichen müssen, setzte Shermin Langhoff 2008 eine Zäsur. Die Zuwanderungsgeschichte seit den 1950er Jahren hatte zwar zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands geführt, aber nicht zur kulturellen und politischen Teilhabe und Mitgestaltungsmacht der Zugewanderten oder ihrer Nachfahren. Nun, als postmigrantisches Theater, bot das Ballhaus Naunynstraße eine institutionalisierte Bühne, einen Raum für zuwanderungserfahrene Protagonist*innen und ihre Erzählungen, es gab einen neuen kulturellen Resonanzraum.
Seit 2013, unter der künstlerischen Leitung und Geschäftsführung von Wagner Carvalho (von Spielzeit 12/13 bis Nov. 2014 gemeinsame Leitung mit Tunçay Kulaoğlu), stehen Schwarze Perspektiven, Perspektiven of Color und queere Perspektiven zunehmend im Fokus. Seitdem agiert das Haus als Impulsgeber für eine Reflexion postkolonialer Strukturen in Alltag und Kunst, es interveniert für die gesellschaftliche Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, des strukturellen Rassismus und intersektionaler Ausschlussmechanismen. In einer so strukturierten Gesellschaft schafft das Ballhaus Naunynstraße einen singulären Rahmen für die Begegnung von Schwarzen, queeren und Künstler*innen of Color, für die selbstbestimmte Produktion von Kunst, für die Entwicklung eigener Narrationen. Damit ist das Ballhaus Naunynstraße in Deutschland bzw. europaweit einzigartig.
Voraussetzung dieses Modells Ballhaus Naunynstraße, Voraussetzung für die Entwicklung von neuen Perspektiven in den darstellenden Künsten, sind Kontinuität und Nachhaltigkeit. Die Schaffung von Zugängen für junge Künstler*innen und die Möglichkeit des Quereinstiegs haben somit ebenso Priorität wie die Nachwuchsförderung über die kulturelle Bildung der akademie der autodidakten. Hinzu kommt eine kontinuierliche thematische Entwicklung mit Eigenproduktionen und internationalen Gastspielen, mit Theater, Tanz, Performances, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Filmreihen, Konzerten und interdisziplinären Festivals wie Black Lux – Ein Heimatfest aus Schwarzen Perspektiven (2013), der Veranstaltungsreihe We are Tomorrow – Visionen und Erinnerungen anlässlich der Berliner Konferenz von 1884 (2014/15), Veranstaltungen wie der 1. Indaba Schwarzer Kulturschaffender in Deutschland (2015), dem Festival Republik Repair – Reparatory Imaginings from Black Berlin (2017) und dem internationalen Performancefestival Permanente Beunruhigung (2018) und dem Festival Postcolonial Poly Perspectives (2019).