Protagonisten
Vererbt den Skandal!
Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin ist 100 geworden
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Je suis Charlie (02/2015)
Assoziationen: Theatergeschichte Akteur:innen Berlin Volksbühne Berlin

Bloß nicht klassisch werden, auch wenn man längst in dem Alter ist! Das scheint das Motto auch der Hundertjahrfeiern der Volksbühne gewesen zu sein, die sich nun sogar selbst auf einem Spruchband mit „altes Haus“ betitelte. Keineswegs resignativ, keineswegs auftrumpfend. Sondern sich auf jene selbstverständliche Weise der drohenden feiertäglichen Umarmung entziehend, die Frank Castorf so gar nicht zum anarchistischen Geist des Hauses zu passen scheint. Hat er recht damit? Ja, hat er. Nein, hat er nicht. Denn an der Volksbühne gibt es immer nur eine Koordinate in Raum und Zeit: nach der Schlacht, der immer aufs Neue verlorenen wohlgemerkt. Das ist bester Heiner Müller, das ist deutscher Geschichtsunterricht in notwendigster Form. Aber nach der Schlacht ist immer auch vor der Schlacht, der nächsten, die erst noch verloren werden will. Kein Problem für den Antiroutinier Castorf, die nächste Niederlage erglänzt aus Mühsal und Faulheit geboren bereits am Horizont.
Doch es kann Schlimmeres passieren als die nächste verlorene Schlacht, nämlich gar keine Schlacht mehr in diesem überdimensionierten Kasten aus den Tagen, da Volksbühne Massenideologie („Baut Volkskunsthäuser!“) des Proletariats und noch nicht Spartenkanal für Melancholiker war. Die Gefahr kommt von außen, sie dringt wie ein Virus, der das Immunsystem unterläuft, in den Körper...