Kolumne
Die Vorderhaus-Chefin
Wer im Theater Oberhausen über das Drumherum regiert
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater ist kein Wettrennen – Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich (01/2018)
Assoziationen: Debatte Theater Oberhausen
Vorderhaus-Chef würde auch ich gerne heißen. Was kann man im Leben mehr erreichen? Die Vorderhaus-Chefin im Theater Oberhausen führt diesen Titel mit zurückhaltender Bescheidenheit. Mit ihrem bürgerlichen Namen will sie nicht in der Zeitschrift stehen. Ist mir egal; darauf kommt es nicht an. Für alle Zeit werde ich sie als Vorderhaus-Chefin ansprechen.
Ihr unterstehen nicht weniger als 16 Menschen, die für ein reibungsloses Drumherum im Theater sorgen. Im Fall von Reibung greift die Vorderhaus-Chefin ein. Das Wort unterstehen würde sie nicht gelten lassen. Eine Vorderhaus-Chefin verfügt über natürliche Autorität. Dass der Titel nirgendwo offiziell vermerkt ist, ändert nichts daran, dass alle sie so nennen. Und dass sie als Vorderhaus-Chefin zugleich Hinterhaus-Chefin ist, verwirrt allenfalls einen penetrant logischen Geist. Alle anderen Geister halten es für selbstverständlich. Im Vorderhaus liegt die große Bühne, im Hinterhaus die kleine. Einst Studiobühne, heißt die kleine seit Neuestem Saal 2. Weil die Vorderhaus-Chefin aber schon seit 22 Jahren regiert – das Wort regieren würde sie nicht gelten lassen –, behält sie die einstigen Abkürzungen bei, wenn sie Infos in die schmalen Spalten ihres Dienstplans einträgt. Das St der Studiobühne steht heute für Saal 2, das X nach wie vor für die große Bühne und das N für den alarmierenden Hinweis nicht verfügbar. Es wäre zwecklos, diesen mit N markierten Mitarbeiter anzurufen, selbst für die Vorderhaus-Chefin. Offiziell bezeichnet sie sich als „Leiterin für Einlass und Garderobe“.
Wollen Sie Kaffee?, fragt eine Mitarbeiterin.
Ja gern, sag ich, weil ich mich daran erinnere, wie gut der Kaffee letzte Woche geschmeckt hat, als Florian Fiedler ihn selbst gemacht hat.
Der hat aber eine bessere Maschine, sagt die Mitarbeiterin. Intendantenmaschine, sag ich mir.
Hätten wir lieber mal gleich Kaffee getrunken, der Intendant und ich. Denn schnell wird mir klar, dass ich nicht seinen besten Tag erwischt habe. Er wirkt müde und abgespannt. Ich weiß so gut wie er, dass es solche Scheißtage gibt. Erst sitzt er noch auf seinem Stuhl, dann sinkt er tief und tiefer zusammen, und bald, denk ich mir, wird er ganz eingeschlafen sein. Ich stell mir vor, dass ich, der Autor, dem schlafenden Intendanten mein neues Stück anpreise, „Zweikampf“, ruf ich ein ums andere Mal, damit er den Titel im Kopf behält, und greife zu allen rhetorischen Tricks, damit er erkennt, dass ein Theater ohne dieses Stück nur ein halbes Theater ist. Ich sprühe vor Leidenschaft, meine Stimme überschlägt sich, ehe ich hart zur Besinnung komme. Der Intendant schnarcht.
Willst du nicht doch einen Kaffee?, fragt Fiedler. Er springt auf, geht aus dem Zimmer, hin zur Intendantenmaschine, und kehrt mit zwei vollen Bechern zurück. Er hat ein kleines Büro bezogen, mit dem Vorteil, dass man im Nu zum Rauchen auf der Dachterrasse steht. Im großen, früheren Intendantenbüro sitzen jetzt vier oder fünf Leute, seine Hausregisseurin und seine Dramaturginnen. Aber an einem Scheißtag wie diesem ist keine Einzige da. An der Pinnwand hängt ein großes Blatt Papier mit der Überschrift Politisches Manifest. Doch statt dass ich mir zwei, drei Leitsätze einpräge, denk ich an Arbeitsgruppe, Schweiß und Weltverbesserung. Zugunsten des Ensembles – die Einstiegsgage wurde erhöht, und Frauen verdienen nicht weniger als Männer – hat Fiedler sein Gehalt um 25 Prozent gekürzt. Draußen, auf der Terrasse, nippen wir am Kaffee. Redend rauchen wir; rauchend reden wir. Fiedler sagt: Du solltest mal die Vorderhaus-Chefin kennenlernen. Die brachte mich dazu, dass ich mich hier beworben habe.
Ja, so muss es wohl gewesen sein, sagt sie. Aber als ich nachhake, wie sie das angestellt habe, gibt ihr Gedächtnis nicht allzu viel her. Sie erinnere sich nur an eine Situation, als sie mit Fiedler über Sitzkissen gesprochen habe. Sitzkissen?, frag ich mich und weiß nicht weiter. Unter diesem Vorwand könnte ich mich erneut beim Intendanten einschleichen, Sitzkissen und Kaffee wären ein schönes Thema. „Zweikampf“, würde ich zwischendurch rufen, und der Intendant würde lächeln.
Die Vorderhaus-Chefin stammt aus dem sächsischen Pirna. Ausgebildet wurde sie zur Facharbeiterin in Vermessungstechnik. Wenige Monate vor der Wende reiste sie aus, tief in den Westen, nach Oberhausen. Besonders gefallen hat ihr in all den Jahren die Aufführung eines Kinderstücks, es hieß „Leckerschmecker“. Zwei Mäuse treffen da aufeinander, die eine spricht Deutsch, die andere Englisch. Anfangs verstehen sie sich nicht, doch mit der Zeit finden sie zu einer gemeinsamen Sprache.
Hat das mit Ihrer Geschichte zu tun?, frag ich sie. Mit der Geschichte einer Ostdeutschen in Westdeutschland?
Nein, gibt sie zur Antwort, so hab ich das nicht gesehen. Aber ich hatte es zunächst nicht leicht.
Weil heute Nikolaustag ist, schenkt mir die Vorderhaus-Chefin einen Schokoladennikolaus. Ist der letzte Satz geschrieben, werde ich den Nikolaus verschlingen. //