Theater der Zeit

Stück

Geschichte als Karneval

Die Dramatikerin Miroslava Svolikova über ihr Stück „europa flieht nach europa“ im Gespräch mit Thomas Irmer

von Miroslava Svolikova und Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater Thikwa Berlin: Ungezähmtes Spiel (06/2018)

Assoziationen: Dramatik Deutsches Theater (Berlin) Burgtheater Wien

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Ihr Stück „europa flieht nach europa“ greift einen Urmythos auf: die Entführung der phönizischen Tochter Europa durch Zeus in Gestalt eines Stiers. Der Titel benennt die Bewegung, die sie vollzieht: von Nordafrika gen Norden, eben Richtung Europa, was natürlich aktuelle Assoziationen hervorruft. Wie kamen Sie auf das Material des Stücks?
Mich haben die Ursprünge Europas interessiert, auch das Bild der entführten und möglicherweise vergewaltigten Frau. Das ist schon ein seltsamer Mythos, nach dem ein ganzer Kontinent benannt wird. Der Name wurde ja ursprünglich für den jüdisch-christlich geprägten westeuropäischen Teil verwendet. Wenn man sich die europäische Geschichte ansieht, gibt es eigentlich keinen richtigen Anfang, es gibt immer noch irgendetwas davor. Wenn man an die Völkerwanderungen denkt, die Einflüsse der Griechen und Römer, die ja ebenfalls expandierten, dann der ganze Einfluss der alten Mittelmeerkulturen. Diese ganze unkoordinierte, komplizierte Geschichte … Ich habe die mythologische Figur aus ihrem eigenen Mythos heraus in weitere verschiedene Tableaus hineinstolpern lassen. Die ursprüngliche Idee war, dass sie in unterschiedlichen Zeiten wiedergeboren wird, sich ständig in anderen Szenen wiederfindet. Sie wird in Vergangenes und Imaginiertes hineinkatapultiert. Die erste Idee lag dann ein gutes Jahr auf Eis, weil ich zunächst „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ geschrieben habe.

Sie benutzen auch das Motiv des Karnevals als Bild der entregelten Welt: Beamte treten als Bauern auf und beschweren sich über die schlechte Kleidung, ein Kind verkleidet sich als Hexe, vor der es sich normalerweise fürchten würde. Es ist keine verkehrte Welt, sondern eine aus der Bahn geratene. Der Karneval ist ja an sich eine akzeptierte Regelübertretung, aber in Ihrem Stück scheint es um etwas anderes zu gehen.
Das Bild des Karnevals verwende ich nicht im Sinne einer exakten Umkehrung, aber die Dinge sind durcheinandergeraten, die Kategorien aufgelöst, die Geschichte ist ein Karneval, alles ein großes Spiel, auch im Sinne von Parodie und Rollentausch. Genau aus diesem Durcheinander, aus diesem „Wer ist wer?“, „Wer ist als was verkleidet?“, „Wer taucht auf und muss auch noch was sagen?“ lassen sich diskursive Blöcke schlagen, um sie als Bild auf die Bühne zu schmeißen, wie ein Kracher. Dann muss man nur noch warten, bis es explodiert.

Ich würde auch von einem grausamen, apokalyptischen Mysterienspiel sprechen, wenn am Ende die Kinder Europa (als Person und Personifizierung) verspeisen. Wie wünschen Sie sich das auf der Bühne gezeigt?
Man kann das Bild auch wie eine dionysische Einverleibung sehen, die Kinder nehmen Europa in sich auf. Es ist auf jeden Fall ambivalent. Ich wünsche mir die Szene abstrakt schön. Europa ist ja schon am Einschlafen, schon am Sterben, als die Kinder kommen. Sie möchte von ihnen geliebt werden und in ihnen weiterleben. Gleichzeitig gruselt einen natürlich, wenn sie sie dann verspeisen. Vielleicht fragt man sich auch, warum das jetzt sein muss.
In einer ersten Fassung habe ich ein positives Ende zwischen Europa und den Kindern imaginiert. Das haben dann viele, die mir Feedback gegeben haben, zu Recht als kitschigen Abschluss empfunden, der dem Rest des Stückes nicht gerecht wird. Es scheint mir ein weit verbreiteter Konsens zu sein, dass Europa am Ende sterben muss. Insofern finde ich dieses Bild sinnvoll, das ambivalent gelesen werden kann und in einem zyklischen Sinne abschließt. Es gibt einen Bogen, der wieder auf das Anfangsbild verweist, wo Europa den Stier zerstückelt.

Sehen Sie sich in einer bestimmten Traditionslinie österreichischer Dramatik?
Darüber denke ich ehrlich gesagt nicht nach. Ich bin ja nicht nur von Dramatik beeinflusst, sondern auch von Literatur. Ich habe mich beispielsweise viel mit französischer Nachkriegsdramatik und -literatur befasst. Die Tradition des Absurden und Symbolischen ist dort sehr stark. Damit kann ich sehr viel anfangen, weil ich selbst auch so arbeite. Mit der österreichischen Literatur und Dramatik verbindet mich sicherlich der Fokus auf die Sprache und der lyrische Zugang. Und vielleicht auch, dass die österreichische Identität im Grunde eine komplizierte, mehrfach gebrochene, neurotische Identität ist. //

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