Theater der Zeit

Auftritt

Burgtheater Wien: „Ist es denn verboten zu schrumpfen?“

„Die Vegetarierin“ von Han Kang (DSE) – Regie Marie Schleef, Bühne Lina Oanh Nguyễn, Kostüme Ji Hyung Nam, Sounddesign Christoph Mateka, Video Lillian Canright

von Sara Schausberger

Assoziationen: Asien Österreich Theaterkritiken Marie Schleef Burgtheater Wien

Dunja Sowinetz, Hans Dieter Knebel und Kotti Yun in „Die Vegetarierin“ in der Regie von Marie Schleef am Wiener Burgtheater. Foto Christoph Liebentritt
Dunja Sowinetz, Hans Dieter Knebel und Kotti Yun in „Die Vegetarierin“ in der Regie von Marie Schleef am Wiener Burgtheater.Foto: Christoph Liebentritt

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In Zeitlupe zerrt sie die in Plastik eingeschweißten Fleischstücke auf die weiße Bühne. Erst die kleinen, blutroten Steaks, später ganze Fische, Schweine und Rehe. Das Plastik knistert. Yong-Hye verbannt alle tierischen Produkte aus ihrem Leben und stößt damit auf tiefstes Unverständnis in ihrem Umfeld. „Warum isst sie kein Fleisch mehr?“, fragen die Eltern, der Ehemann, die Schwester, der Schwager. Yong-Hye (Kotti Yun) antwortet lediglich: „Ich hatte einen Traum.“

Überhaupt fallen nur wenige Worte in der deutschsprachigen Erstaufführung von Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“. Als die südkoreanische Autorin 2024 den Literaturnobelpreis erhielt, stand das Stück schon auf dem Spielplan des Burgtheaters. Der Vorschlag für den Stoff kam von Regisseurin Marie Schleef selbst. Es war ein Glückstreffer. Schleefs formstrenger Stil passt ganz wunderbar zur Protagonistin des Stücks: Yong-Hyes leise Konsequenz überträgt sich auch auf den Theaterabend.

Schleef hat den Text zwar radikal gekürzt, dennoch inszeniert sie nah am Roman und in drei Kapiteln die Geschichte dieser immer radikaleren Verweigerung. Yong-Hyes Ausstieg aus dem System passiert unbeirrt, aber leise. Die Erzählung am Akademietheater läuft vor allem auf der Bildebene ab. Das Ensemble bewegt sich in Slow Motion über die Bühne. Egal ob es geht, Sex hat oder sich gegen einen medizinischen Eingriff wehrt, bleibt es konsequent langsam. Jede Bewegung ist präzise. Vor allem Ernest Allan Hausmann als Yong-Hyes Ehemann, der primär aggressiv auf ihre Entscheidung fortan vegan zu leben, reagiert, ist ein Meister der Zeitlupen-Bewegung. Als er sie umarmen möchte, stößt sie ihn weg. Sie könne seinen Geruch nach Fleisch nicht ertragen: „Du riechst aus jeder Pore.“ Er stolpert, ganz langsam, nach hinten. Manchmal dauern diese Bewegungsabläufe sehr lange und nicht jede Schauspieler:in ist gleich gut darin, aber langweilig wird der Abend deswegen nicht. Im Gegenteil, der Inszenierung haftet dadurch fast etwas Tänzerisches an.

Das choreografische Bewegungsvokabular ist genau abgestimmt mit dem Sound, der sowohl die Handlung als auch die Künstlichkeit der Inszenierung unterstreicht: Da ist das verstärkte Knistern der Plastikfolie, das Kratzen des Eises im Gefrierschrank, das Geräusch von Schritten und immer wieder lautes Dröhnen (Sounddesign Christoph Mateka). Dazwischen gibt es Filmprojektionen von Efeu, Bäumen, Enten, Ziegen, Schmetterlingen. Wie Traumsequenzen umrahmen sie das artifizielle Bühnengeschehen mit Bildern aus der Natur (Video Lilian Canright). Einmal beißt Yong-Hye darin in Nahaufnahme in rohes, fasriges Fleisch. Es fühlt sich falsch an. 

Jedes der drei Kapitel bekommt sein eigenes Bühnenbild (Bühne Lina Oanh Nguyễn). Zu Beginn ist alles weiß, von Vorhängen umgeben, der Boden dampft, als wäre er aus Eis. Hier entledigt sich Yong-Hye nicht nur des Fleisches, sondern auch ihrer weißen Kleider. In Zeitlupe zieht sie ihre Schürze, ihr Kleid, ihr Unterhemd aus. Sonnenlicht fällt auf ihren nackten Körper. Als ihr Vater ihr Fleisch aufzwingen will, ritzt sie sich mit dem Messer die Pulsadern auf. Im zweiten Teil wandelt sie nackt zwischen Monitoren durch eine Art Kunstgalerie. Videos laufen auf Bildschirmen. Dort bemalt ihr Schwager (Philipp Hauss) ihren und seinen Körper mit grüner Farbe. Die Pflanzen auf der Haut hätten ihr wirklich Lust gemacht, meint sie. Sie schlafen miteinander. Sehr still und in Slow Motion. Als ihre Schwester die beiden erwischt, kommt Yong-Hye in die Psychiatrie.

Im letzten Kapitel steht sie kopfüber im Wald. Der Boden ist voller Moos. Vögel zwitschern. Im Hintergrund rauschen Bäche auf einer Videoleinwand. Dieser Wald ist saftig grün und dennoch maximal künstlich. Die grünen Vorhänge auf der Bühne heben und senken sich, als würden sie atmen. Die Protagonistin befindet sich in der Psychiatrie. Nun brauche sie gar kein Essen mehr, sagt Yong-Hye. „Alles, was ich brauche, ist Wasser. Die Blumen beginnen, mir aus dem Schoß zu sprießen.“ Ihre Verweigerung geht so weit, dass sie selbst zur Pflanze werden möchte. Als Ärzt:innen zur Zwangsernährung der Vegetarierin ansetzen, fragt sie ihre Schwester: „Ist es denn verboten, zu schrumpfen?“

Han Kang erzählt in „Die Vegetarierin“ von weiblichem Widerstand und patriarchaler Gewalt. Yong-Hyes Schwester (Alexandra Henkel) ist die Einzige, die ihr mit der Zeit mit wahrer Fürsorge begegnet: „Ich Idiotin“, sagt sie zum Schluss. „Dein Körper ist das einzige, mit dem du machen kannst, was du willst.“

Erschienen am 15.5.2025

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