Theater der Zeit

Auftritt

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Pollesch ohne Pollesch

„Der Schnittchenkauf“ von René Pollesch (UA) – Bühne Leonard Neumann, Kostüme Tabea Braun, Live-Kamera Jan Speckenbach

von Nathalie Eckstein

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Jan Speckenbach René Pollesch Volksbühne Berlin

Franz Beil, Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Rosa Lembeck und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ von René Pollesch. Foto Apollonia T. Bitzan
Franz Beil, Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Rosa Lembeck und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ von René PolleschFoto: Apollonia T. Bitzan

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„Ich wollte mal in einen Theaterabend gehen, weil ich gehört hatte, dass sie dort Schnittchen verteilten. Ich wusste auch, dass ich da billig reinkomme. Aber dann war ich drin und es wurden gar keine Schnittchen verteilt“, sagt Franz Beil in einem Rattenkostüm in die Livekamera auf der Hinterbühne der Volksbühne. „Ich habe dauernd geguckt, wo die Schnittchen sind, und ich war somit natürlich nicht der Zuschauer, den man vor Augen hat in einer Theateraufführung“. Diese titelgebende Szene aus Polleschs theatertheoretischen Schriften „Der Schnittchenkauf“, eine Abarbeitung an Brechts „Szenen aus dem Messingkauf“, kommt zehn Monate nach seinem Tod und ohne seine Regie zur Premiere.

Immer wieder wird auf Brechts Lehrstücke Bezug genommen im Text. Die Ausgangsfrage, die Pollesch beschäftigt: Den Zuschauer, der wirklich Interesse hat an der Theaterkunst, den gibt es nicht. Das wird gleichsam Ansatzpunkt für das Ende von Repräsentation innerer Zustände in der Darstellung auf der Bühne. Denn, wie Martin Wuttke in einem Safari-Outfit mit Tierprint erklärt: „Die Ähnlichkeit unserer Körper bildet keine Grundlage für eine gelungene Konversation“. Es gibt kein Inneres mehr, die Seele ist eine Fiktion, nur Körper gibt es, nur Oberfläche.

Rosa Lembeck tritt als eine Art lakonischer Widerhall auf den Brecht’schen Philosophen aus dem „Messingkauf“ mit Sätzen wie „An eurem Theater interessiert mich, dass es zeigen könnte, dass wir nicht lieben können, wenn wir sprechen“ auf, Milan Peschel steht im Schottenrock da, und Kathrin Angerer ist die gewohnte Grande Dame des Theaters, sucht die Sätze in der ihr eigenen Art noch beim Sprechen und wird die spektakulärsten Kostümwechsel haben (Kostüme Tabea Braun).

Im Bühnenbild, wie bei „ja nichts ist ok“ eine Wohnung (Bühne Leonard Neumann), japanischer Stil, von der Hinterbühne durch ein Bild von einem Fluss getrennt, kommen die Figuren dann mittels einer als-ob-Konstruktion in einen Dialog. Ein Ensemble aus fünf Schauspieler:innen, das sich durch mäandernde Metatheaterdiskussionen bewegt.

Pollesch ohne Pollesch? Es klingt nach ihm, es sieht nach ihm aus. Die ganze leicht trashy Ästhetik (Zigarettenrauch, goldene Spielzeugpistole, Livekamera, Plakate, scheinbares Stottern und Finden im Spiel, you name it) sieht insgesamt sehr nach Pollesch aus.

Immer wieder kommen die Schauspieler:innen in ihren Rollen auf den „Schnittchenkauf“ zurück, referieren direkt auf den Text, zitieren ihn, nennen den entsprechenden Paragrafen. Überhaupt, es ist Polleschs Text, der diesen Abend trägt. Die unangefochtene Art, das Tieftragisch gegen das sagenhaft Lustige zu halten, führte zu der Textfassung der Schauspieler zusammen mit der Dramaturgin Anna Heesen, die Dialoge und Szenen aus den theatertheoretischen Überlegungen, die in einer kleinen Auflage von der Kölner Galerie Buchholz 2012 gedruckt wurden, geschlagen werden können, Slapstick inklusive (siehe TdZ 1/25).

Was also weitermachen mit dem Erbe, wie also umgehen mit dem Verlust und dem Nachlass? Die Antwort, die das Volksbühnenensemble zu finden scheint, ist die, Polleschs Poetologie hochzuhalten, auf der Bühne weiterleben zu lassen. Themen wie die bereits angesprochene Repräsentation und Darstellbarkeit von Zuständen werden genauso behandelt wie die vierte Wand, der Text, Semantik und das Bühnenbild und der Kapitalismus. Eine Poetologie des Postdramatischen Theaters also, ohne Illusion und ohne kapitalistischen Verwertungsanspruch.

In der zweiten Hälfte, in der die Spannung leider etwas abfällt und die Konzentration sinkt, geht es anthropologisch weiter: Die eigene Animalität ernst zu nehmen, ein Schleimpilz werden, dafür plädiert Franz Beil, weiterhin im Rattenkostüm, und damit beginnt ein Abgesang auf den anthropologischen Schnitt, auf eine Trennung zwischen Mensch und Tier oder Schleimpilz, Werden statt Sein, lautet die Devise, die Martin Wuttke herausarbeitet, während Kathrin Angerer ein totes Rehkitz an ihren Körper im Jagdoutfit drückt.

Änhlich beklemmend wie diese Geste bleibt die Frage nach der Zukunft der Volksbühne. Ohne Perspektive auf eine Interimsleitung und in einer komplizierten kulturpolitischen Situation fällt das Fehlen von Pollesch in dieser emotionalen Auseinandersetzung mit seinem Tod umso mehr ins Gewicht.

So gilt der brandende Applaus am Ende dann nicht nur dem Ensemble und dem Team, sondern auch Pollesch, der eine sichtbare Lücke hinterlässt, die seine Schauspieler:innen im besten Sinne mit dem füllen können, was sie haben: seine Arbeit. Denn, das ist der Schlusssatz: „Dieses Herz, das man ihnen eingepflanzt hat, ist ja ein Wiederschlagen“.

Erschienen am 17.12.2024

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