Auftritt
Berliner Festspiele: Perspektivwechsel
„Shared Landscapes. Sieben Stücke zwischen Wald und Wiese“ – Konzept Caroline Barneaud und Stefan Kaegi, mit Inszenierungen von Chiara Bersani und Marco D’Agostin, El Conde de Torrefiel, Sofia Dias und Vítor Roriz, Begüm Erciyas und Daniel Kötter, Stefan Kaegi, Ari Benjamin Meyers sowie Émilie Rousset
Assoziationen: Theaterkritiken Brandenburg Dossier: Klimawandel Stefan Kaegi Berliner Festspiele
Das Mensch-Welt-Verhältnis soll zum Mensch-Wald-Verhältnis werden. Und umgekehrt. Oder um es mit den Worten des vermutlich im Hintergrund stehenden Gedankengut von Andreas Weber zu sagen: „Sich lebendig zu wissen, ist eine Grundvoraussetzung des Menschen, die uns mit allen lebenden Organismen und der Natur verbindet“. Um diese Verbindung, „Enlivenment“ ist der ternimus technicus für die Aufhebung des Dualismus, performativ zu erleben, hat das Haus der Berliner Festspiele nach Grünheide eingeladen, in die etwas außerhalb von Berlin gelegene Waldschule Hangelsberg. Dass das alles in einer Waldschule stattfindet, scheint eher unfreiwillig zu passen. Hoch ist der didaktische Ton am Anfang des rund siebenstündigen Ausflugs, den Stefan Kaegis Hörstück bildet. Das Publikum lauscht liegend über Kopfhörer einem Gespräch zwischen einer Meteorologin, einer brasilianischen Sängerin, einer Psychoanalytikerin, einem Kind und eben dem lokalen Förster. Da wird gefragt und erklärt, aber auch assoziiert und versucht, poetische Erkenntnisse zu finden. Das Gespräch mäandert dahin, schweift ab zum ähnlichen Klang von „liegen“ und lügen“ und versucht, diesen semantisch produktiv zu machen. Das Liegen auf dem Boden ermöglicht einen Blick in die Bäume.
Und ein Blickwechsel, eine neue Perspektive, ist das Ziel. Werden von der Psychoanalytikerin zunächst noch klassisch Natur und Kultur als Widerspruch beschrieben, geht es an der nächsten Station in einer Art Gruppenselbsterfahrung darum, das Netzwerk zu spüren, das der Wald ist, und selbst Teil desselben zu werden. Sofia Dias und Vítor Roriz haben eine auditorische Performance entwickelt, in der das Publikum selbst inszeniert wird. Man werde selbst der Berg, der Grashalm, das Rhizom. Teils bemüht, teils lustig und teils klug und selbstironisch legt der Text über Kopfhörer dem Publikum, das sich auf Geheiß hin kreisförmig im Wald angeordnet hat, nicht nur die eigene Machart offen, sondern auch den Widerspruch, sich von den natürlichen Waldgeräuschen mittels Kopfhörer zu isolieren, um dann neuerlich künstlich erzeugte Waldgeräusche über ebendiese zu hören. Der Zugang zur Natur scheint nur über den technischen Umweg denkbar zu sein.
Ebenfalls zu einem Perspektivwechsel wird das Publikum eingeladen, als es mittels VR-Brille in die Kronen der Bäume geht. Begüm Erciyas und Daniel Kötter erzeugen damit nicht nur eine Diskrepanz im Körper, einen Effekt, der die einander widersprechenden Sinneseindrücke (die Füße am Boden, die Augen scheinbar in der Luft), sondern verweisen mittels der Technik und der Verschiebung der Sichtlinien vom Horizontalen ins Vertikale, auf Macht, auf Hierarchien, auf Vertreibung, Flucht und Ausbeutung, auf Kriegsinstrumente und Militärtechnik, letztlich werden die Linien vertikal am Beispiel einer Goldmine an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Chiara Bersani und Marco D'Agostin laden zu einem Picknick ein, bei dem die Parameter verschoben sind. Vor der Landschaft aus Bäumen hängt eine Leinwand, ein Bild einer neuerlichen Landschaft. Sie erinnert an Caspar David Friedrich und stellt die Frage nach Grenzen, nach Immersion und die Frage, die jedes Nature Writing umtreiben muss: dass eine Beschreibung immer auch eine Erfindung sein muss, dass es keinen Nullpunkt gibt. Eindrücklich so auch die Geschichte von John McFall, dem potenziell ersten Paraastronauten, denn keine Körpernorm ist beobachtungspunktunabhängig.
Das Konzept der ortsspezifischen Performance hat Stefan Kaegi mit Rimini Protokoll bereits professionalisiert. In einer intereuropäischen Kooperation, kofinanziert von der Europäischen Union, entstehen bei „Shared Landscapes“ je neue Versionen des Projekts, in der Schweiz (Théâtre de Vidy-Lausanne) und in Frankreich (Festival d’Avignon) haben sie schon stattgefunden. Österreich, Italien, Portugal, Slowenien und Spanien folgen.
Auf den Wegen zwischen den Stationen, die im Wald verteilt liegen und in drei Gruppen wechselweise besucht werden, ist Musik zu hören. Ari Benjamin Meyers‘ „skulpturale Musikstücke“, wie es im Programmheft, das naheliegenderweise eine Wanderkarte darstellt, heißt, wird als Blasmusik vom Ensemble Apparat und Gästen in der Wiese liegend oder an die Bäume gelehnt gespielt. Das erinnert mal an die Geräusche der Insekten und mal an zeitgenössische Oper.
Und die Wege zwischen den Stationen bieten auch das Potenzial für die Problemlage, die alle performativen oder installativen Spaziergänge mit geteilten Gruppen haben: Das Timing der Wege und die Planung des Endes der Performances muss immer eine Herausforderung bleiben.
Den Schluss des Ausflugs bestreitet das Kollektiv El Conde de Torrefiel mit einem Monolog. Viel bleibt Monolog in diesen sieben Stunden, viel bleibt statisch. Mag das Konzept auch aufgehen, es fehlt an mancher Stelle an einer Umsetzung, die über die sensorischen Eindrücke der Mücken, die der Wald hinterlässt, hinausgehen.
Am Ende des Abends leuchten nicht nur einzelne Bäume im Licht des Sonnenuntergangs, sondern auch die nahegelegene Tesla-Gigafactory. Es geht um neue Perspektiven zum Ende des Anthropozäns. Theoretisch und finanziell mag hier alles stimmen, ästhetisch und performativ bleibt es etwas hinter den Erwartungen zurück.
Erschienen am 28.8.2023