Essay
Wenn die Sitzbänke vibrieren
Die neuen Zuschauerinnen und Zuschauer von Zürich – ein Essay zur Publikumskultur
von Martin Wigger
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Debatte Schweiz Schauspielhaus Zürich
.jpg&w=3840&q=75)
Hier blitzt sie auf einmal wieder auf, eine Idee von „Stadtgesellschaft“. An dieser Premiere des „Wilhelm Tell“ in der Inszenierung von Milo Rau Ende April am Schauspielhaus Zürich, schon vor Beginn der Vorstellung. Ein neues und fast schon ungewöhnliches Gefühl von Miteinander, das sich gleich im Zuschauerraum fortsetzt, wenn hier nun erst recht alte wie neue Ideale einer helvetischen Gemeinschaft verhandelt werden. Mit Ensemble und Laien, und immer wieder auch mit dem Publikum. An dieses Gefühl wird in dieser Inszenierung bis zum Schluss appelliert, es hält an, trägt über die Premiere hinaus.
In den Foyers fällt es am meisten auf: Irgendetwas ist hier passiert in den letzten Jahren trotz aller pandemischen Beschränkungen. Das Publikum deutlich verjüngt. Dort, wo man sich einst mit 50+ noch jung fühlte, ist man unfreiwillig schnell auf die andere Seite gerückt. Das Zürcher Publikum stellt sich wieder breiter auf. Zumindest im Schauspielhaus. Aber auch im benachbarten Theater Neumarkt fallen die neuen Zuschauerinnen und Zuschauer von Zürich auf.
Es lässt sich nicht einfach beschreiben, und schon gar nicht alles über den sprichwörtlichen Kamm scheren. Aber versuchen wir es einmal so: In kaum einer anderen – zumindest deutsch- sprachigen – Stadt scheint es eine so gelungene Synthese von Publikum und Bühne zu geben wie derzeit in Zürich. Zuschauer:innen, Intendant:innen, Schauspieler:innen wie Regisseur:innen, aber auch die Themen und Stoffe selbst haben größtmögliche Nähe zueinander erreicht. Hier scheint man sich gegenseitig zu „meinen“. Alle Identitätsdebatten von Gesellschaft und Theater unter einem Dach vereint.
Ein unglaublicher und längst überfälliger Energieschub im Stadttheater, der allerorts gewünscht und herbeigesehnt wird, in Zürich aber fast schon selbstverständlich vonstattengeht. Dass hier mit alten Traditionen, vor allem mit sogenannten Sehgewohnheiten gebrochen wird, fällt dann auf, wenn man in die anderen Theatermetropolen reist: Berlin, Hamburg, München, Wien. Da ist irgendwie alles beim Bisherigen und Bekannten, hier ein neues Spielplan-Credo, dort die Inklusion als Zusatzsparte. Aber das Publikum noch immer das, was man im Stadttheater erwartet. Gerade so viel gewagt, dass das Abo-Publikum bei der Stange bleibt. Zürich ist hier mutiger: Allein schon andere Abo- und Eintrittslösungen (das Neumarkt überlässt den Eintrittspreis in drei Staffelungen den Zahlenden) brechen aus alten Bahnen aus und erreichen neue Zielgruppen.
Sicher gab und gibt es noch immer Zürcherinnen und Zürcher, denen dies alles zu viel an Neuem ist. Man hört und sieht auch selbst, dass Teile eines bisherigen Publikums weggebrochen sind. Dafür gibt es nun erkennbar ein anderes. Die neuen Zuschauerinnen und Zuschauer von Zürich. Die eher jünger geworden sind und bei denen man sich noch immer fragt, woher sie denn auf einmal kommen. Ein Interesse scheint jedenfalls vorhanden zu sein. Und die anderen und Älteren müssen sich nicht ausgeschlossen fühlen. Ganz im Gegenteil: Es macht Spaß, sich auf das einzulassen, was vielleicht Zukunft des Theaters bedeutet und Neugierde weckt.
Was ist in Zürich geglückt? Vielleicht eine Form von ehrli- cher Auseinandersetzung mit dem großen Schlagwort von Identität. Sowohl Schauspielhaus als auch Neumarkt geben sich erkennbar Mühe, für neue Themen persönlich einzustehen. Der New Yorker Choreograf Trajal Harrell mit seiner festen Company am Schauspielhaus ist dafür der vielleicht gelungenste Beweis. Fast schon wie ein Gastgeber tritt Harrel mit einer ihm eigenen Präsenz in Erscheinung; sein Ensemble selbst ist eine der inhaltlichsten Sparten am Schauspielhaus, weil es in Inszenierungen wie zuletzt „Monkey off My Back“ mehr über Diversität erzählt, als jeder andere Diskurs auf oder außerhalb der Bühne es jemals könnte. Auch Co-Intendant Nicolas Stemann ist bekannt für eigene Auftritte in seinen Arbeiten; seine von ihm selbst inszenierten Familienstücke zur Weihnachtszeit sind nicht zu überbieten an Offenheit und Charme. Und Hausregisseur Christopher Rüping zielt wie kein anderer darauf ab, sein Publikum so anzusprechen, dass es sich eben „gemeint“ fühlt. Das liegt zum einen an durchlässigen Spieler:innen wie Maja Beckmann, Lena Schwarz oder Benjamin Lillie. Zum anderen aber auch wieder an neuen Formen von Moderation. In „Der Ring des Nibelungen“, seiner jüngsten Inszenierung in Zürich, eröffnet der Autor Necati Öziri den Abend mit seinem Erstaunen darüber, wie fremd ihm Stoff und eigene Theaterlaufbahn immer noch seien. Ein Abend voller Unsicherheit in einem sicheren deutschen Mythos. Was folgt, ist ein Lehrstück in Sachen Präsenz: lauter Solo-Auftritte des hier versammelten Ensembles, direkt an das Publikum gerichtet. Wenn am Ende Wotan gegen die Jungen wettert und seine Erfahrungen als alter weißer Mann gleichberechtigt einbringt, sind auf einmal alle mit- einander versöhnt. Gerade auch die Alt-Abonnent:innen.
Eines fällt auf: Nicht mehr nur Spielpläne oder Programmatiken stehen im Vordergrund, sondern Menschen, die sich äußern und nicht verstecken und für alles Vielschichtige von Gesellschaft und Publikum einstehen. Auch neue Ästhetiken spielen dabei eine Rolle, wie gerade in den Arbeiten von Alexander Giesche am Schauspielhaus. Bei ihm hat man nun wirklich das Gefühl, bei etwas dabei gewesen zu sein, was das Theater stilistisch in neue Richtungen treibt. Seine Themen von „Nachhaltigkeit“ finden direkten Bezug zum Publikum, fast schon über eigene Labore des Erzählens, die man anders verlässt, als man sie betreten hat. In den Kritiken zu Giesches „Momo“, aber auch zum „Tell“ von Milo Rau ist nicht zufällig von „Sitzkreisen“ die Rede, an denen man gern teilhabe. Das hat tatsächlich viel mit dem Effekt einer Katharsis zu tun, die schon bei Aristoteles nicht eine Erfahrung der Spielenden ist, sondern allein dem Publikum vorbehalten bleibt.
Das kleinere Neumarkt steht dem übrigens in nichts nach. Auch hier bleibt eine der jüngsten Arbeiten, „Porno mit Adorno“ in der Regie von Felix Rothenhäusler, in bester Erinnerung, weil sie im derzeitigen Weltgeschehen mit knallharter Faktenlage uns die eige- ne Lebenssituation vor Augen führt. Die Bühne wird zu einem Laufsteg mit allem, was die Nachrichten über Klima, Migration und Krieg zu vermelden haben, gepaart mit dem Experten Adorno und den tröstenden Songs des Zürcher Musikers Faber. Eine Hyper-Pop-Oper, die spätestens dann als Apokalypse das Publikum erreicht, wenn die Zuschauerbänke unter einem zu vibrieren beginnen. Geht man hier schon gemeinsam unter, oder ist das alles nur Theater? Grundsätzlich punktet das Neumarkt gegenüber dem Schauspielhaus in der Suche nach den Zusammenhängen: Hier wird ein Publikum längerfristig begleitet über viele auch von den Inszenierungen unabhängige Formate, werden Zusammenhänge gesucht und gefunden. Der Spielplan wirkt in sich ebenso schlüssig wie die Abfolge der einzelnen Inszenierungen. „Akademie“ ist eine treffende Selbstbetitelung des Theaters, und die drei Intendantinnen Erdoğan/Milz/Reichert sind als praktiziertes Mehr-Leitungsmodell nicht weniger präsent in allem als die männlichen Kollegen Blomberg/Stemann auf der anderen, reicheren Seite.
Mit ihren neuen Leitungsmodellen ist die pragmatisch denkende und kraft ihrer Geschichte schon immer paritätisch aufgestellte Schweiz schneller in der Praxis angekommen als Deutschland oder Österreich. Auch die Gessnerallee, die sich inmitten der Pandemie und damit unter ziemlichem Verschluss neu aufgestellt hat, wird nun von drei Frauen geleitet. Und vielleicht ist dies gerade das erfolgreiche Rezept von Zürich, ein neues Publikum erreicht zu haben: Die Kombination von „gu- ter“ Leitung mit nicht zögerlicher persönlicher und damit politischer Positionierung. Das Ganze auf einem guten Nährboden, einer Schweizer Theatertradition, die sich seit Marthaler, seit Rimini Protokoll oder zuletzt Milo Rau noch nie gescheut hat, eine eigene Stimme zu erheben, die vielleicht klein oder skurril aus einem überschaubaren Bergland heraus schallt, dann aber doch gerade im Schonraum viel über uns und die Welt zu erzählen hat. Diese Tradition setzt Zürich – vielleicht unbewusst – gerade fort, diesmal nicht in erster Linie originär schweizerisch, dafür aber repräsentativ mit all seinen auch zugereisten Menschen an den Theatern. Komplexe inhaltliche Konstruktionen sind nicht vonnöten. Dafür umso mehr ehrliche menschliche Stimmen. Und allein das kann schon gutes Theater ausmachen und ein neues Publikum generieren. //