Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Oberhausen: No King today

„Fanfaren!“ von Noëlle Haeseling (UA) – Regie Andreas Widenka, Bühne Marlena Gundlach, Kostüme Laura Osterhoff

von Stefan Keim

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Dossier: Uraufführungen Andreas Widenka Theater Oberhausen

Weit mehr als eine Talentprobe: „Fanfaren!“ von Noëlle Haeseling (UA) in der Regie von Andreas Widenka am Theater Oberhausen.
Weit mehr als eine Talentprobe: „Fanfaren!“ von Noëlle Haeseling (UA) in der Regie von Andreas Widenka am Theater Oberhausen.Foto: Lukas Diller

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Es ist angerichtet. Auf einem gut zwei Meter hohen Tisch steht ein opulentes Frühstück bereit, das Morgenmahl eines Königs. Vier Fanfarenspieler:innen in rotsamtenen Prachtgewändern warten auf ihn, denn ohne ein musikalisches Willkommen ist dem Monarchen keine Nahrungsaufnahme zuzumuten. Sie klettern auf überdimensionale Stühle mit hohen Lehnen und setzen ihre Instrumente an die Lippen. Doch der König kommt nicht.

 

So beginnt die Uraufführung des Stücks „Fanfaren!“ der 1996 geborenen Dramatikerin, Jazzsängerin und Schauspielerin Noëlle Haeseling. Die unerwartete Wartezeit gibt den Musiker:innen Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sonst verrichten sie einfach ihren Dienst, musikalisch perfekt, streng nach Protokoll. Es wird 10, die Fanfaren werden unsicher. Sollen sie weiter auf den König warten, oder schon in Position 2 gehen, für den nächsten Job, die Einleitung des vormittäglichen Hasenjagd-Events? Sie sind aus dem täglichen Trott gerissen, so etwas gab es noch nie. Sie müssen plötzlich selbst denken und eine Entscheidung fällen. So etwas kann bei Untertanen, deren Hirne auf Gehorsam gepolt sind, zu Kettenreaktionen führen. 

 

Noëlle Haeselings Stück erinnert an das absurde Theater der fünfziger und sechziger Jahre, vor allem an Eugène Ionesco. Wie die – zuletzt ja wieder häufiger aufgeführte – „kahle Sängerin“ taucht der König niemals auf. Dadurch gerät die gesamte Ordnung ins Straucheln. Erst plündern die Fanfaren das Buffet, weil ihr Magen knurrt. Dann fangen sie an, miteinander zu reden, Erfahrungen auszutauschen, nennen sich sogar beim Namen. Die Zeit der Entindividualisierung ist vorbei. Schließlich erzählt die jüngste und in der Rangordnung niedrigste Fanfare von einer Vergewaltigung durch den König. Die anderen reagieren mit Entsetzen. Am Ende pulverisieren sie sogar die Struktur des Stücks. Sechs Szenen sollte es geben, so wurde in Brechtscher Manier stets vor Beginn jedes Abschnitts verkündet. Drei der Fanfaren verlassen die Bühne und spielen eine siebte Szene. Während eine, die älteste, zurückbleibt. Auch wenn der König nicht mehr da und als Verbrecher entlarvt ist, schafft sie nicht mehr den Weg in die Freiheit. Sie war zu lange nur Fanfare.

 

Die Geschichte ist ein allgemeines Gleichnis, mehr philosophisch als politisch, aber die Details stimmen. Noëlle Haeseling schreibt klar und subtil, mit elegantem Witz und angemessenem Ernst, wenn es um den sexuellen Missbrauch geht. Das konsequent der Zeitgenossenschaft verpflichtete Theater Oberhausen zeigt eine nahezu perfekte Uraufführung. Bühne und Kostüme wirken wie aus einem Hollywood-Historiendrama aus den fünfziger Jahren entlehnt, was gut zum bewusst etwas altmodischen Sprachstil passt. Die grandiosen Schauspieler bringen in Andreas Widenkas einfühlsamer Regie die Charaktere zum Leben und entdecken eine Menge psychologischer Feinheiten. Berührend verletzbar und mutig erzählt Nadja Bruder als jüngste Fanfare, wie sie vom König bedrängt wird, im Glauben, das sei allen anderen Musikerinnen auch passiert. Tim Weckenbrock und Susanne Burkhard zeigen mit großer Glaubwürdigkeit Menschen, die aus ihrer Funktionalität ausbrechen und erst mit schlechtem Gewissen, dann immer lustvoller die Freiheit ausprobieren. Und Torsten Bauer ist als älteste Fanfare 1 am Ende völlig zerrissen zwischen der Erkenntnis, dass die Zeit der Monarchie vorbei ist, und einer unerschütterlichen Loyalität.

 

Als „royales Lustspiel über die Arbeit, den Sinn unseres Daseins und die Naturtrompete“ hat Noëlle Haeseling ihr Stück „Fanfaren!“ angekündigt. Genau das liefert sie, einen ebenso unterhaltenden wie nachdenklichen Theatertext, weit mehr als eine Talentprobe. Eine junge Dramatikerin mit hoher sprachlicher Begabung und Vielschichtigkeit.

Erschienen am 4.11.2025

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