Theater der Zeit

Protagonisten

Artus’ Apokalypse

Mit einem Fokus auf neuer Dramatik widmet sich Neu-Intendantin Iris Laufenberg am Schauspielhaus Graz dem wüsten Leben einer entwurzelten Menschheit

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)

Assoziationen: Sprechtheater Österreich Akteure Schauspielhaus Graz

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Inmitten der Spielfläche wächst ein riesiger Baum in den Bühnenhimmel. Als wäre er einst als winziger Spross durch den Bretterboden getrieben. Ein Einbruch der Natur in den Kulturtempel Theater. Artus’ Tafelrittern steht dieser Baum gehörig im Weg. Der Tisch, an den sie der mythische König (und zugleich Erfinder der modernen Roundtable-Debattenkultur) gebeten hat, legt sich als Kreis einmal rund um den mächtigen Stamm, der sich damit als Kommunikationshindernis erweist: Ein Teil der Diskutanten kann sich gegenseitig weder hören noch sehen, Informationen müssen daher per Flüsterpost weitergegeben werden. Aber auch sonst kommt den Recken immer wieder die eigene Triebnatur in die Quere. Artus, Sir Lancelot und Königin Ginevra beispielsweise verlieren sich im hehren Streben nach der Wahrheit (versinnbildlicht in der Gralssuche) lust- und eifersuchtsgesteuert in einem banalen Beziehungsdreieck.

Zur Eröffnung der Intendanz von Iris Laufenberg am Schauspielhaus Graz hat Jan-Christoph Gockel „Merlin oder Das wüste Land“ inszeniert, Tankred Dorsts 97 Szenen umfassendes Welttheater. Geschätzte 15 Stunden, heißt es, würde eine komplette Aufführung dauern. Eine Menge Holz. Gockel hat den Wald gelichtet, ohne die buntesten Blüten von Dorsts Phantasie zu kappen. Die Inszenierung ist ein klares Bekenntnis zum szenischen Wildwuchs. Es gibt Lautes und Leises, heiligen Ernst und heillosen Klamauk, Popsongs, Pathos (u. a. dank Fantasyfilm-tauglicher Musik) und Puppenspiel. Titelheld Merlin etwa ist eine nackte Holzgliederpuppe (gebaut und toll geführt von Michael Pietsch) und außerdem ein Magier, der stets das Gute will, aber vor einer Menschheit kapitulieren muss, die immer nur das Böse schafft.

Dieser überbordende Auftaktabend ist aufregend und anstrengend, enervierend und faszinierend zugleich. In den zwiespältigen Gefühlen, die er auslöst, spiegelt sich auch die widersprüchliche Wahrnehmung einer schwer zu fassenden Welt: Von allem, was gilt, lässt sich hier mit gleichem Recht auch das Gegenteil behaupten. Der phallische Stamm in der Bühnenmitte etwa ist nicht nur Sinnbild schwer zu beherrschender Urkräfte, die es im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts zu bändigen gilt. Als gefällter Baumriese in der zweiten Hälfte der Inszenierung symbolisiert er zugleich die bedrohte ursprüngliche Natur, die in diesem Kultivierungsprozess zerstört wird. Artus’ Apokalypse. Das „wüste Land“ eben.

Für die Grazer Neu-Intendantin Iris Laufenberg war der Griff zu „Merlin“ auch eine „Herzensangelegenheit“. Eine Rückbesinnung der 49-Jährigen auf die eigenen Wurzeln. Nach dem Studium am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen (zu den Kommilitonen zählten René Pollesch und Hans-Werner Kroesinger) waren Tankred Dorst und seine Frau Ursula Ehler ihre ersten Chefs bei den Neuen Stücken aus Europa. Der Festivalname könnte nun beinahe als Motto über Laufenbergs erster Grazer Spielzeit stehen.

Dorst und Ehler kamen zum Grazer „Merlin“. Dorst (der selbst im Marionettentheater begonnen hat) zeigte sich vor allem von Pietschs Puppen begeistert und hätte am liebsten eine behalten. Die aber gibt Pietsch nicht her. Da ist er ganz gluckender Puppenpapa, obwohl er seinem Merlin gern mal freien Auslauf gönnt und ihn durch die vierte Wand ins Parkett ausbüxen lässt, wo er zwischen den Stuhlreihen herumkobolzt und Zuschauern die Haare zerrauft. Ein Theater auf Tuchfühlung mit seinen Besuchern.

Die Distanz zwischen Machern und Publikum zu verringern, half zwei Wochen vor der „Merlin“-Premiere auf andere Art bereits der Eröffnungsparcours „Grenzgänge“. Hier waren die Grazer eingeladen, die Grenze zum Backstage-Bereich des Theaters zu überschreiten und Aufführungen an Orten zu erleben, wo sie normalerweise nichts zu suchen haben. In der Schlosserei zum Beispiel oder auf der Unterbühne. Vor allem aber ging es bei dem Projekt natürlich um Grenzen im Politischen wie im Privaten. 13 Dramatiker aus dem In- und Ausland beackerten das Thema in Kurzstücken (siehe auch Stückinsert TdZ 9/2015). Neben etablierten Größen aus Österreich oder Deutschland (Thomas Arzt, Philipp Löhle) und den local heroes Ferdinand Schmalz und Clemens J. Setz (beide in Graz geboren) waren vor allem Osteuropäer vertreten: Nicoleta Esinencu aus Moldawien etwa, deren Minidrama „Panic attack“ davon erzählt, wie in einem ethnischen Konflikt aus Nachbarn Feinde werden. Oder der Tscheche Roman Sikora, dessen Beitrag „Auf dem Weg zum Sieg“ von k.u.k. Soldaten an der ukrainischen Front handelt.

Was die internationale Vernetzung des Schauspielhauses Graz (vor allem in Richtung Osten) betrifft, so hat Laufenbergs Vorgängerin Anna Badora das Feld bereits bestens bestellt. Hier kann die neue Intendantin anknüpfen, zumal sich auch ihr diese Ausrichtung förmlich aufdrängt angesichts der Lage der Stadt am südöstlichen Rand der deutschsprachigen Theaterlandschaft: „Man kann in Graz sehr leicht die Perspektive ändern. Darin liegt für uns eine Chance, uns zeitgemäß weiterzuentwickeln. Ich muss nicht unbedingt immer nur nach Wien schauen.“

Doch während bei Badora der Fokus auf fremden Regiehandschriften lag, definiert sich Laufenbergs Theater vor allem über zeitgenössische Autoren. Ihre erste Spielzeit wird vergleichsweise wenige Klassiker bringen (u. a. Shakespeares „Sturm“), dafür Stücke von Iwan Wyrypajew („Betrunkene“), Roland Schimmelpfennig („Idomeneus“) oder Joël Pommerat („Kreise/Visionen“). „Es reicht nicht, immer nur die Klassiker neu zu interpretieren“, findet Laufenberg. „Ich schaue Theater von heute aus, auch bei Stoffen der Klassik. Manchmal aber wird das, was uns heute bewegt, in der Gegenwartsdramatik greifbarer.“

Insofern gaben die „Grenzgänge“ schon mal den Tenor ihrer ersten Saison vor und machten das Publikum zudem mit weiteren Namen vertraut, die demnächst auf dem Spielplan auftauchen werden. Oder schon aufgetaucht sind. So feierte einen Tag nach „Merlin“ ein Stück von Alexandra Badea Premiere, die schon für die „Grenzgänge“ geschrieben hatte. Die Rumänin (Jahrgang 1980) fügt in „Zersplittert“ Fragmente aus dem Berufsalltag von vier rund um den Erdball verteilten Arbeitnehmern zum Gesamtbild einer entwurzelten Menschheit. Von der Malocherin am Fließband in China bis zum vielfliegenden Manager aus Frankreich sind diese Existenzen über die Produktionskette eines Global Players aus der IT-Branche miteinander verbunden. Badeas Figuren sind weltweit vernetzt, aber nicht mehr bei sich. In einer unter dem Diktat der Gewinnmaximierung beschleunigten Arbeitswelt haben sie sich selbst verloren. Regisseurin Nina Gühlstorff übersetzt diesen täglichen Abnutzungskampf in Trainingseinheiten auf einem Klettergerüst. Leistungsdruck als Leistungsturnen.

Es sind symptomatische Zustände, wie Badea sie beschreibt, die Iris Laufenberg zu dem Schluss kommen lassen: „Das Theater ist eine Oase.“ Ein Ort, der im Zeitalter des Multitaskings die Möglichkeit zum vorübergehenden Ausstieg aus dem Hamsterrad des Lebens bietet: „Der Zuschauer ist für einen bestimmten Zeitraum nur mit dem beschäftigt, was auf der Bühne passiert, und bekommt so Konzentration geschenkt.“ Eine Theateraufführung kann man eben nicht so einfach wegklicken. Laufenberg hält daher auch nichts davon, mit Aktionen wie Twittern im Theater, die mancherorts ausprobiert werden, um die (oft ohnehin nur flüchtige) Aufmerksamkeit von Digital Natives zu buhlen. Da ist ihr ein klares Bekenntnis zur anachronistischen Kunstform Theater lieber. Über das Publikum sagt sie: „Die, die da sind, sind die Richtigen!“ Was nicht bedeutet, dass sie nicht versuchen will, über die angestammten Zuschauer hinaus neue zu gewinnen. Im Startblock „100 Tage“ sucht das Schauspiel Graz unter ihrer Leitung in Diskussionen, Konzerten, Partys oder Poetryslams verstärkt Kontakt zur Stadtgesellschaft und zur lokalen Szene. Zu Künstlern, Kinobesitzern, Galeristen oder Studenten. „Wenn wir nicht von Anfang an profiliert präsent sind“, glaubt Laufenberg, „laufen wir später hinterher.“ Besser also, sofort zu ackern. So viel Hamsterrad muss sein. Damit die Oase gedeiht. Und die Saat aufgeht, damit bald eine stattliche Pflanze daraus wächst. Irgendwann vielleicht sogar ein mächtiger Stamm. //

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