Stück
Das Drama der Ökologie
Laudatio zum Else Lasker-Schüler-Preis für Kathrin Röggla
von Frank M. Raddatz
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Dramatik Akteure Dossier: Klimawandel Kathrin Röggla
Kathrin Röggla ist eine der produktivsten Theaterautorinnen unserer Gegenwart. Ihre große Zeit als Dramatikerin begann in der Spielzeit 2002/03 mit „fake reports“, was dann später unter „DIE 50 MAL BESSEREN AMERIKANER“ noch oft aufgeführt wurde. Allein in den letzten zehn Jahren entstanden 15 Theaterstücke. In dieser Spielzeit werden drei Stücke präsentiert. „Kinder kriegen“, erstmals gespielt 2012, feiert im Theater Dortmund Premiere. Dann folgen gleich zwei Uraufführungen: am 7.4.2022 „Das Wasser“ am Staatsschauspiel Dresden, am 2.4.2022 die Uraufführung „Das Verfahren“ über den NSU-Prozess am Staatstheater Saarbrücken in Kooperation mit Theater Rampe in Stuttgart. Insgesamt zählte der Verlag weit über 50 Inszenierungen von Kathrin Rögglas Theaterstücken.
Angesichts dieser Fülle werden Sie verstehen, dass ich weder die Inhalte der Stücktexte zusammenfassen kann noch auf die Entwicklung der literarischen Techniken im Laufe des reichen Schreibprozesses eingehen will. Ich fühle mich aber auch noch aus einem anderen Grund legitimiert, diesen Überblick zu verweigern. Ich stehe heute weder als Literaturwissenschaftler noch als Theatertheoretiker oder als mehrjähriger Leiter einer Theaterzeitschrift vor Ihnen. Auch nicht als vielseitiger Theaterpraktiker. Der Grund besteht darin, dass ich zusammen mit der Arktisforscherin und Direktorin Antje Boetius im Spätsommer 2019 auf der Neuköllner Terrasse der Autorin von der Gründung eines ökologisch ausgerichteten Theaters des Anthropozäns im Kontext der Humboldt-Universität zu Berlin berichtet habe. Seitdem ist unser Diskurs zum Thema Ökologie und Theater nicht abgerissen. Vor ein paar Monaten haben Antje Boetius und ich in der Aula der Kunsthochschule für Medien in Köln, wo Kathrin Röggla mittlerweile Professorin ist, die von ihr initiierte Reihe „The Damaged Planet – Solidarität mit unserem verletzten Planeten“ eröffnet.
Deshalb will ich mich heute auf das jüngste Kind der Dramatikerin fokussieren. Der Zufall will es, dass sein Name „Das Wasser“ allein durch die Assonanz an das große Stück der Namenspatronin des heute verliehenen Preises erinnert. 1909 wurde „Die Wupper“ veröffentlicht. 2022 „Das Wasser“. In den Gedichten Else Lasker-Schülers umschreibt der Ausdruck Wasser ein Reservoir der Trauer. „Hinter meinen Augen stehen Wasser, /Die muß ich alle weinen“, lautet eine Zeile aus der Lyrik „Das Lied“. Bei Röggla ist es die reale Materialität des Elements Wasser, die mannigfaltiges Leid verursacht.
In den kommenden Minuten werde ich nicht das Vokabular der ökologischen Toxikologie wie Erderwärmung, abschmelzende Pole, Verluste der Biodiversität usw. konjugieren. Vielmehr will ich auf das Stück eingehen, das deren Relevanz keineswegs bestreitet, sondern im Gegenteil deren Wirkmacht voraussetzt. Lassen wir uns also auf den Spuren des Textes auf jene „Suchbewegung“ ein, die, so die Autorin, die gegenwärtiger Klimaerzählungen charakterisiert.
Wer sich dem zentralen Narrativ des Textes, nämlich der biblischen Erzählung „Jonas und der Wal“ zuwendet, merkt schnell, dass um dieses Paradigma der wunderbaren Errettung die Fragezeichen geradezu wuchern: Wer kann oder will sich in das Innere des Wals flüchten; wer außerhalb des Wals agieren? Wer oder wo ist überhaupt der Wal? Einer der Akteure glaubt, die Antwort zu kennen: „Dabei besteht der Wal aus nichts anderem als Zeit. Die haben einfach keine Ahnung, wie es ist, wenn man durch diese Wand an Zeit gegangen ist.“
Vielleicht lässt sich diese Zeitmauer durch die Vergegenwärtigung des enormen Epochenumbruchs passieren, den namhafte Wissenschaftler, darunter Nobelpreisträger und Philosophen, als Beginn eines neuen Zeitalters namens Anthropozän betrachten. In dieser Epoche fällt dem Menschen die titanische Aufgabe zu, die Verantwortung für das Gleichgewicht der Sphären zu übernehmen. Der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour vergleicht den Anbruch dieser uns noch unbekannten Ära, deren Gesetze und Spielregeln wir nicht kennen, mit der Entdeckung Amerikas 1492. Noch, so Latour, haben wir den fremden Kontinent nicht betreten, sondern erkennen gerade erst seine Küstenlinie.
In „Das Wasser“ hebt sich der Vorhang über einer bedrohlichen Szenerie, wo dieses Element seine gewohnten Grenzen übertritt und Straßen, Parkplätze, Shoppingmalls, U-Bahnstation, Siedlung überflutet. Diesmal gehen die Verheerungen nicht wie auf der Bühne üblich auf das Konto der Akteure des Sozialen, werden sie nun als „Die Perser“ oder als „Macbeth“, „Wallenstein“ oder „Herzog Theodor von Gotland“ exponiert, sondern die vermeintlichen Konstanten der Natur verwandeln sich in Protagonisten von Exzessen.
„Uns fehlten eigentlich 800 l pro qm im Jahr. Und jetzt das alles an einem Tag. Heute. Also jetzt. Da! Kurzzeitig stehendes Gewässer, das wieder in Bewegung gerät! Den ganzen Winter über keine Flüsse, im Sommer vorher noch viel weniger. Und jetzt? Man möchte hinaus, öffnet die Tür, und da ist ein Fluss. Man sieht zum Fenster hinaus, und da steht Wasser. Es steht auf einen Meter, zwei Meter, fünf Meter, sieben Meter, und der Regen nimmt kein Ende. Du möchtest aus dem Auto aussteigen, und da drückt eine Wand Wasser dagegen. Du siehst aus dem Fenster und stellst fest, du bist unter Wasser. Es will herein. Es kennt immer schon die Ritzen, Spalten, kleine Risse, Löcher. Es kennt den Weg, bevor du ihn kennst.“
2010 hatte die Preisträgerin mit der Prosa „Die Alarmbereiten“ einen virtuellen Kosmos seziert, der tagtäglich eine Gefahrenlage aus Nachrichten über sich gerade öffnende Abgründe oder zu erwartende Hiobsbotschaften auffrischt. Gut ein Jahrzehnt darauf hat sich der permanente Ausnahmezustand des – neudeutsch gesagt – Präsenzmodus bemächtigt.
Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat das 20. Jahrhundert auf die Phase zwischen 1914 und 1989 datiert und mit dem Terminus Das kurze Jahrhundert der Extreme etikettiert. In unserer Gegenwart wird absehbar, dass sich die Herrschaft der Extreme noch ausweitet, wenn nicht nur die Soldaten die Kasernen, sondern die Bäche, Flüsse und Jahreszeiten die gewohnten Bahnen verlassen. An Stelle der Letzteren ist, so der dem Stück vorangestellte Kommentar der Autorin, ein „zyklisches Modell der Katastrophe getreten: Vor der Flut kommt die Dürre, nach der Dürre kommt die Flut“. Im Text selber ist zu lesen: „nach dem plötzlichen Starkregen eine Starksonne“.
Die zunehmende Instabilität des ökologischen Gleichgewichts entbindet Klimaschwankungen, deren Wucht buchstäblich die Fundamente des Sozialen erschüttert. Rögglas Augenmerk richtet sich auf eine Gesellschaft, die sich von einer berechen- und beherrschbaren Natur verabschieden muss, weil sie sich, auch wenn sie es zum Teil nicht wahrhaben will, in einem Raum der Transformation befindet. Dieser mitunter äußerst schmerzvolle Lernprozess, dass die Natur nicht länger unserem Willen gehorcht, erzeugt Zeugnisse von Desorientierung und Verwirrung: „Vor unserer Haustür soll nicht ertrunken werden, vor unserer Haustür ist auch ein schlechtes Ertrinken. Hier herrscht ja mehr Trockenstress. Aber wir sind bereits so daran gewöhnt, dass Menschen anderswo ertrinken, vielleicht bekommen wir es gar nicht mit, wenn sie es doch vor unserer Haustür tun.“ Kaum stringenter wirkt das Credo des Vertreters des Homo Faber: „Wir leben in einer Zeit, in der es um Ingenieurskunst geht, um nichts weiter.“
Die damit aufgeworfene Frage, in welcher Zeit wir leben, führt weit über die Meinungsbekundungen von Figuren hinaus und berührt die Funktion von Theater selbst. „Die Zeit ist aus den Fugen“ hält eine bekannte Hamlet-Zeile den Epochenbruch der Elisabethanischen Renaissance für die literarische Ewigkeit fest. Wie Rögglas Akteure sieht sich auch der weltberühmte Protagonist von William Shakespeare einem steigenden Handlungsdruck ausgesetzt und ist zugleich außerstande, auf tradierte Muster zu rekurrieren. Heute gibt das historische Novum der globalen Verschmelzung von Menschen- und Erdgeschichte der Gegenwart das Gepräge und erzeugt trotz aller technologischen Innovationsschübe eine anwachsende Hilflosigkeit. So sieht sich beispielsweise ein verzweifelter Moderator mit seinem Latein am Ende: „Wir haben moderate Verhältnisse, … Und wenn die nicht mehr moderat sind, wenn die völlig unvorhersehbar werden, dann setzen wir unsere Politik in Bewegung, so ist es doch, oder? Aber sie kommt nicht recht in Bewegung!“
Jede Äußerung, jede Stellungnahme, jede Bekundung komponiert das Psychogramm einer verunsicherten und zutiefst überforderten Gesellschaft. In diesem aus den unterschiedlichsten Stimmen zusammengesetzten Fresko dürften insbesondere die Jüngeren nicht fehlen, geht es doch um ihre Zukunft. Über eine Schülerin namens Tonke, Teilnehmerin jenes Kinderkreuzzugs gegen die Klimapolitik, den Greta Thunberg mit Fridays for Future intonierte, erfährt der Zuschauer: „Die Tonke erinnert uns alle daran, dass die Probleme woanders gemacht werden, nicht hier bei uns. Sie werden auf höchster Ebene gemacht, und die höchste Ebene gilt es zu attackieren. … die Tonke unterbricht sich und ruft plötzlich, es bräuchte nur 100 Konzerne, aber eben nicht nur. ‚Wir kennen alle ihre Namen!‘ Da müsste man jetzt einmal Aktionen setzen, sagt jetzt die Tonke.“
Der in den 1950er Jahren geborene Soziologe Heinz Bude merkte vor ein paar Jahren an, dass seine Generation in dem Bewusstsein aufwuchs: „Das Schlimmste liegt hinter uns“. Dieses Axiom hat sich für die heute Heranwachsenden ins Gegenteil verkehrt. Ihnen ist klar: „Das Schlimmste kommt erst noch!“
Wie sich in einem Sediment die verschiedenen Gesteinsschichten überlagern, geraten gegenwärtig unterschiedliche und gegenläufige Stimmungslagen der Gesellschaft ins Rutschen. Nicht nur die Wissenschaft durchläuft die größte De-Legitimierungskrise ihrer Geschichte, sondern die Zeit selbst ist in Bewegung gekommen. Haltepunkte sind nicht in Sicht. Aber Kipppunkte, die das planetarische Habitat irreversibel verändern werden. Der Mensch des Mittelalters konnte davon ausgehen, dass die Welt am Ende seines Lebens genauso aussehen würde wie zu seiner Geburt, sodass er beispielsweise über mehrere Generationen den Bau von Kathedralen in Angriff nehmen konnte. In den nachfolgenden Epochen ging diese Gewissheit verloren. Heute, so der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, wissen die Jüngeren nicht, ob die Natur am Ende ihres Lebens noch dieselbe sein wird wie in ihrer Kindheit. Immer neue Stressfaktoren purzeln aus der Klimablackbox und erzeugen eine Atmosphäre der Ungewissheit, die den Boden für das Versagen Einzelner stiftet. Die PERSÖNLICHES DRAMA übertitelte Szene besitzt, so die Autorin, einen realen Hintergrund:
„Wir haben ja die L., die Z. und die W. Also war ich in ständigem Kontakt mit der Feuerwehrleitung. Die mussten ja gesagt bekommen, was das jetzt heißt: ‚4m Pegelstand‘.
Ich habe an alles gedacht. Die Knackpunkte bei den Flüssen, wo das Wasser rausdrücken wird. Ich hab an die Dämme gedacht und an die Verteilung der Sandsäcke. Die ganze Logistik. Doch als ich spätabends nach Hause kam, da fiel mir auf, dass ich komplett die W. vergessen hab. Den einen Fluss vor meiner eigenen Haustür … Und dann stand ich spätabends zu Hause und habe Panik bekommen, denn der eine Fluss war plötzlich vor meinem Wohnzimmerfenster, und da gehört er ganz und gar nicht hin …
Also mir ist das passiert, und ich weiß nicht, wieso. Ich habe keine Ahnung, es war eben ein Aussetzer, wir leben ja auch in einer Zeit der Aussetzer, warum passiert das nicht auch mir, und wenn Sie jetzt denken, Sie haben was verstanden, wenn Sie hören: 2,5 Meter, 4 Meter, 6 Meter. Dann haben vermutlich Sie Ihren Aussetzer und rennen in Ihren Keller, weil Sie noch was rausholen wollen. Sie öffnen eine Tür, die Sie geschlossen halten sollten. Das ist dann Ihr Drama.“
Das Drama des Wassers, das Drama der Ökologie mündet in individuellen Tragödien. In einer Epoche, in der die Rahmenbedingungen des Sozialen in Bewegung kommen, erweitert die Autorin den Blick der Bühne von dem rein gesellschaftlichen Panoptikum auf dessen ökologische Voraussetzung. Durch ihre Entwürfe kann das Theater ein entscheidender Faktor werden, die Hürden des Anthropozäns zu meistern. Kathrin Röggla hat dem Theater einer Gesellschaft, die lernen muss, die Verantwortung für das Gleichgewicht der Sphären zu übernehmen, Beine gemacht. Dank dafür an die Autorin. //