Auftritt
Schaubühne Berlin: Prekariat und Rachsucht
„Die Wildente“ von Henrik Ibsen in einer Fassung von Maja Zade und Thomas Ostermeier – Regie Thomas Ostermeier, Bühne Magda Willi, Kostüme Vanessa Sampaio Borgmann, Musik Silvain Jacques
von Thomas Irmer
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Thomas Ostermeier Schaubühne am Lehniner Platz

Der Kritiker Georg Hensel sah seinerzeit bei Ibsen die „Antike auf dem Sofa“. Bei Thomas Ostermeier greifen Ibsens Stücke, entsprechend adaptiert, immer nach den aktuellen sozialen Themen und soziologischen Befunden. Nach der Untersuchung der damals so genannten oder gerade erfundenen Neuen Mitte junger Bürgerlichkeit mit „Nora“ und dann „Hedda Gabler“ gab es 2012 den Welthit „Ein Volksfeind“ über bis zur Selbstzerstörung standhaftes Verhalten gegen eine an gesellschaftlichen Bruchstellen driftende kompakte Majorität. Thomas Ostermeiers Inszenierung traf in den verschiedensten Ländern mit der publikumsoffenen Diskussion als Teil der Aufführung auf begeisterte Zustimmung, die Öffnung der vierten Wand wurde vielerorts als politisch gesehen.
Jetzt kam die „Wildente“ nach der Premiere in Avignon in der Berliner Schaubühne an, in einem etwas kleineren Raum mit direkterem Kontakt zum Publikum und dafür auch nochmal extra geprobt. Der alte Ekdal, von Falk Rockstroh wunderbar brummig und dabei an einem Faltbeutel nestelnd unterwürfig gespielt, huscht durch das Hinterzimmer eines Salons, in dem Hakon Werle eine Party gibt. Thomas Bading versieht diesen Werle-Kapitalisten mit herrisch arroganten Zügen. Auf der Rückseite der dann recht oft rotierenden Drehbühne sieht man die Welt der Ekdals, die, sozusagen in zweiter Generation ins Elend gestürzt, sich mit einem Fotostudio über Wasser zu halten versuchen, in dem sie wohnen, denn ein weiteres Zimmer soll als Vermietung die Einkünfte aufbessern. Prekär sind die Verhältnisse und so auch die Atmosphäre, in der schnell Streit zwischen Hjalmar und Gina Ekdal in der Luft liegt. Stefan Stern mit strähnigem Langhaar besitzt dicke Fachbücher über Fototechnik, denn er arbeitet vorgeblich oder auch vergeblich an einer großen Erfindung mit KI-Interface „und so“. Die Regie lässt ihn aber schon bei den Gitarrengriffen für Metallicas „Nothing Else Matters“ versagen und noch schneller, als man das mit der Fotoerfindung als Ausweg begreifen könnte, erkennt man diesen Hjalmar nicht nur als gebeutelte Figur, sondern als untergehenden Mann. Da kommt die Gina von Marie Burchard vergleichsweise etwas besser, weil lebenstüchtiger weg – allerdings wird in der Kostümierung mit gepunkteten Leggings nicht am Klischee gespart. Magda Willis abgewohnte Behausung ist in der Tat ärmlich, und zu den subtileren Details gehört, dass diese Fotospezialisten anbieten, WhatsApp-Bilder als Porträts ausdrucken zu können. Der illusionäre Jagdgrund ist ein Nebengelass, in dem Opa Ekdal der Enkelin Hedvig die Wildente als eine Art magische Figur zum Füttern gezeigt hat.
Diese Hedvig haben Ostermeier und Maja Zade als Figur neu erfunden: Mit 17 hat sie gerade die Schule geschmissen (der Kolonialismus wird dort nicht thematisiert) und will Journalistin werden, weil der akademische Feminismus sich nicht für die Klassenfrage und die Supermarktkassiererin interessiert. Um in der Sache vorwärts zu kommen, würde sie aber auch ein Praktikum in der Pressestelle des verhassten Werle machen wollen, das ihr der Vater verschaffen soll. Magdalena Lermers Hedvig merkt man bei allem wütenden Idealismus auch den Willen an, diesem Milieu zu entkommen.
In dem von Ibsen vorgegebenen sozialen Gegensatzgrundriss setzt Ostermeier nun mit Gregers Werle eine Figur ein, die mit dem Aufräumen von Lebenslügen und der Aufdeckung der Verhältnisse um Hedvigs wahren Vater wie eine Mischung aus fanatischem Therapeuten und heutigen Politikern im Dienste sauberer Verhältnisse auftritt. Er bohrt penetrant in den Ekdals herum, als gelte es ihr Seelenheil zu retten, dabei ist die Aufklärung von Ginas Dienstmädchenverhältnis mit dem alten Werle und dessen manipulatives Verhalten ohnehin schon in Gang gekommen. Marcel Kohler lässt in seinem Werle auch Züge narzisstischer Rachsucht eines gedemütigten Patriarchensohnes erkennen, was die Prekariatsshow dann doch etwas komplexer macht. Dass er eine Publikumsdiskussion über Lügen in Beziehungen anfangen will, in der er ziemlich sensible Themen per Handzeichen abfragt, geht nach hinten los. Als in der dritten Vorstellung ihm jemand zuruft, er habe über diese Szene schon in der Zeitung gelesen, überspielt Kohler charmant humorvoll, dass er wohl nicht mehr allzu weit damit kommen werde. Im Übrigen sieht er ein bisschen aus wie Jens Spahn, aber diese Analogie ist auch nicht stimmig zu diesem Gregers in einer mit allen Ecken und Kanten Ostermeier-typisch bearbeiteten „Wildente“, in der der versoffene Dr. Relling in Gestalt des famos direkten David Ruland immer noch das berühmte Wort verkündet, das man einem Durchschnittsmenschen nicht die Lebenslüge nehmen soll.
Am Ende dieser Ausweglosigkeit erschießt sich Hedvig im Wildentengelass und die von allen hektisch betriebenen Wiederbelebungsversuche laufen als stumme Szene auf der rotierenden Drehbühne zu Led Zeppelins „Kashmir“. Ein minutenlang dröhnendes Rätsel zum Schluss.
Erschienen am 17.9.2025