Theater der Zeit

Akteure

Aus dem Fragmentierten ein Ganzes schaffen

Elizabeth LeCompte und Kate Valk von der New Yorker The Wooster Group im Gespräch über ihre außergewöhnliche Geschichte, polnische Großkünstler und Performance Art

von The Wooster Group und Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Nordamerika Akteure

Kate Valk (links) in „A Pink Chair“ von The Wooster Group
Kate Valk (links) in „A Pink Chair“ von The Wooster GroupFoto: Steve Gunther

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Die Wooster Group wird bald fünfzig Jahre alt, je nachdem, an welcher genauen Gründungszeit man das festmacht. Es ist so oder so eine erstaunlich lange Lebensdauer für eine Theatergruppe, umso mehr, zieht man die Bedingungen in den USA und speziell in New York dafür in Betracht.

EL: Wir haben damals nicht gesagt, jetzt gründen wir mal eine Theatergruppe, sondern haben einfach ohne Plan losgelegt. Wir, eine Gruppe von gleichgesinnten Schauspielern, hatten die Performing Garage in Manhattan, konnten diesen Raum in der Wooster Street zusammen mit Richard Schechners Performance Group nutzen, wo Spalding Gray als Schauspieler und ich als Regieassistentin mitmachten. Es war auch mehr wie ein Club und nicht wie ein reguläres Theater.

1979 verwendeten wir dann offiziell den Namen The Wooster Group für uns, denn wir mussten uns um staatliche Zuschüsse bewerben, und das ging nur so. Das war also ein Prozess, obwohl wir schon ab 1975 die ersten Sachen mit der „Rhode Island Trilogy“ rausgebracht hatten, die auf Material von Spalding Gray basierten. Ich selbst habe mich auch gar nicht als Regisseurin von Stücken verstanden, denn die Sachen, die wir machten, hatten vor allem mit uns selbst und Spaldings Autobiografie zu tun. Mit uns meine ich neben Spalding und mir Ron Vawter, Jim Clayburgh, Willem Dafoe, Katie und Payton Smith.

KV: Unsere Gruppe überlappte mit der Performance Group, bis Schechner kein Theater mehr machen wollte. Wir erbten dann die Spielstätte (und die Schulden dazu).

Es waren später in Deutschland vor allem die Tour-Gastspiele wie Eugene O‘Neills „The Hairy Ape“ 1995, mit denen die Wooster Group als Pioniere eines technologisch avancierten Theaters bekannt wurde, in dem Video und neues Audio-Equipment für ein expressives Schauspielertheater zum Einsatz kamen.

EL: Technologie war kein grundsätzliches Arbeitsprinzip. Alle in der Gruppe hatten Erfahrungen mit diesen Technologien, beim Fernsehen angefangen. Und ich bin ja ursprünglich gar nicht vom Theater, sondern war Fotografin. Video zu verwenden war eine ganz natürliche Sache für mich.

KV: Wie auch Super 8 und 16 mm Film.

EL: Bruce Nauman benutzte als Künstler Video schon lange vorher – als gefilmte Performance. Joan Jonas war ein anderes Vorbild, als wir in den 1970ern damit angefangen haben. Unsere Arbeiten mit Technologie entwickelten sich also nicht aus dem Theater, sondern aus der bildenden Kunst. Aber als wir uns um staatliche Subventionen bewerben mussten, gab es diese Unterstützung für uns nur als Theatermacher, die sich mit der Verwendung von Theatertexten dafür qualifizierten.

Das klingt so, als hätte sich eine ästhetische Seite von Performance Art in eine bürokratische Schublade von Theater zwängen müssen, um an Fördermittel zu kommen.

KV: Was Liz und die Wooster Group entwickelten, war ja nicht deckungsgleich mit der Performance Art in Amerika damals. Damit verband man meist ein einmaliges Event. Die Wooster Group entwickelte aber Produktionen in einem langen Prozess, die dann wiederum sehr lange wiederholt gezeigt werden konnten. Was der gängigen Aufführungspraxis von Theater glich. Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Aspekt, denn Liz trat mit ihrer Arbeit als ‚auteur director‘ hervor, was es damals im Theater gar nicht gab.

EL: Obwohl es ähnliche Arbeitsweisen in der Theatergeschichte schon gegeben hat. Aber eben nicht in New York zu der Zeit.

KV: Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten waren offen. Maler, Musiker, Performer, Tänzer, die konnten leicht zueinander finden und miteinander arbeiten. Das war wirklich sehr befreiend. Als ich zur Group hinzukam, war dieses Fließen zwischen den Künsten für mich prägend. So konnte die Ästhetik von Liz auch mit Tadeusz Kantor ins Gespräch kommen, bei dem ja ein Objekt auf der Bühne eine gleichrangige spirituelle Ausstrahlung wie die Performer haben konnte.

Wie jetzt gerade in dem Stück „A Pink Chair“ beim FIND-Festival zu sehen war, das sich ja ganz unmittelbar mit Kantors Theater beschäftigt. 2004 wurde mit „Poor Theater“ eine Auseinandersetzung mit dem Theater von Jerzy Grotowski erarbeitet. Gibt es also einen Dialog mit der nun schon historischen Avantgarde in Europa, die von den beiden Polen mit weitreichenden Folgen angeregt wurde?

EL: Ehrlich gesagt, sind das erst Forschungsprojekte geworden, nachdem wir sie als finanziell geförderte Aufträge angenommen hatten. Wir kommen hier in Amerika nicht leicht an Geld ran, also haben wir bei beiden Angeboten aus Polen zugesagt. Ich wusste nicht so viel über Grotowski damals, und vor „A Pink Chair“ auch nur wenig über Kantor. Also habe ich mir gesagt, lasst uns herausfinden, was wir damit zu tun haben, und vor allem, was wir damit heute anfangen können. Das ist grundsätzlich unsere Methode, in der Arbeit über andere Theaterkünstler etwas Eigenes zu finden und zu entwickeln. Wir haben das auch schon so mit Tennessee Williams gemacht.

KV: Wir haben einmal unsere Zuschauer gefragt, was wir als Nächstes machen sollen, und die meisten sagten: Tennessee Williams. Wir kamen so auf „Vieux Carré“, ein eher selten gespieltes Stück aus dem Spätwerk über Tennessee Williams‘ Coming Out.

EL: Für das Kantor-Projekt jedenfalls lernten wir Kantors Tochter Dorota Krakowska kennen, die uns bei den Recherchen begleitete und schließlich zur Dramaturgin wurde. Ohne sie wäre keine Geschichte entstanden. Sie hatte ein äußerst kompliziertes Verhältnis zu ihrem Vater, denn der hatte die Mutter mit der noch jungen Dorota für eine Schauspielerin in seiner Truppe verlassen. Sie hatte ein starkes Bedürfnis, dem Vater noch einmal zu begegnen, das stand in einem spannenden Verhältnis zu dem Motiv des Odysseus, das in Kantors vorletztem Stück „I Shall Never Return“ zentral ist. Das war für uns alle ein bedeutsamer Ansatz.

Tadeusz Kantor, der 1990 starb, ist heute leider nicht mehr so bekannt. Aber es gibt natürlich immer noch Theaterfans, die wegen ihm nach Krakau pilgern, wo in der Cricoteka, einer Art Kantor-Museum, die Objekte aus seinen Aufführungen zu sehen sind, u.a. eine Installation seiner ikonischen „Toten Klasse“. Es scheint, die Wooster Group und ihre Geschichte haben sich mit seiner Arbeit geradezu verschmolzen.

EL: Das stimmt. Nachdem wir angefangen haben, an dem Stücke zu arbeiten, habe ich einige Gemeinsamkeiten zwischen Kantor und mir gefunden, zum Beispiel, wie er mit seinen Performern als Gruppe arbeitete, da gibt es auf jeden Fall Parallelen. Aber es gibt auch einen großen Unterschied: Ich bin eine Frau und ich verfolge nicht die Idee des Großkünstlers. Ich bin ein Teil einer Gruppe, eine mit speziellen Fähigkeiten, die anderen in der Gruppe haben ihre eigenen Fähigkeiten, und ich führe das zusammen.

Und das ist sicher ein Grund, warum Sie nach so vielen Jahren noch zusammen sind und immer wieder Neues entdecken. In diesem Zusammenhang wollte ich Sie nach einem Begriff fragen, der in der deutschen Theaterkultur sehr häufig gebraucht wird, wenn man diese experimentellen Entwicklungen im Theater seit den Siebzigerjahren Jahren anspricht und mit dem auch Ihr Gastspiel hier in Ankündigungen beworben wurde: postdramatisches Theater.

EL und KV: Was ist das?

Alternativ könnte man von Dekonstruktion sprechen.

EL: Aha, aber einen solchen Begriff würde ich höchstens in einem Antrag auf Zuschüsse verwenden. Ich dekonstruiere ja nicht, ich füge etwas Neues hinzu. Zu bereits Vorhandenem, das von anderen stammt. Es ist mehr wie Malerei oder Übermalen von Malerei, und das Original darunter bleibt noch sichtbar. Aber der Kern ist der Text. Ich nehme die Sachen nicht auseinander.

Sie betonen also die zentrale Rolle des Textes. Aber das ist genau das, was die Theorie des Postdramatischen bestreitet: Text und Kanon sind nicht mehr zentral.

KV: Das klingt sehr absolutistisch. Da möchte ich sofort das Gegenteil machen.

„Breaking the Rules“ lautet der Titel von David Savrans mehrfach aufgelegtem Standardwerk über die Wooster Group. Eine völlig andere Arbeit als die beiden Forschungen zur polnischen Avantgarde war 2017 „The Town Hall Affair“, die Rekonstruktion eines Streitgesprächs über ‚women’s liberation‘ zwischen dem Schriftsteller Norman Mailer und vier Autorinnen, darunter die damals sehr einflussreiche Theoretikerin Germaine Greer, das 1971 ein Medienereignis war und von den Dokumentarfilmern Chris Hegedus und D.A. Pennebaker festgehalten wurde. Wie ist denn das, im Kontext des neuen Feminismus unserer Zeit, entstanden?

EL: Maura Tierney, die immer wieder in der Gruppe mitspielt, kam mit dem Film „Town Bloody Hall“ und sagte, sie würde das gern mit uns machen und Germaine Greer spielen. Ich schaute mir das also an, erstmal nur als Material, ganz offen und ohne Vorbehalte. Auch nicht gegen Mailer. Und ich erfuhr eine Menge aus dem, was er sagte. Was er über die Linke sagte. Und da kam viel hoch, was heute los ist.

Nämlich?

KV: Mailer warnte damals vor dem Totalitären der Linken. Und wenn wir auf unsere Colleges gucken, dann ist da was dran. Die Linken haben die Universitäten, die Rechten sind im Weißen Haus. Sie sollten dazu Angela Nagles „Kill All Normies“ lesen, das, ebenfalls kontrovers, die Internet-Kulturkriege zwischen links und rechts analysiert.

Haben sich denn Ihre Arbeitsgrundlagen und Auffassungen von Theater durch Social Media und die daraus folgende Fragmentierung der Kultur verändert?

EL: Wir benutzen das natürlich für Publicity. Ich persönlich aber gar nicht.

KV: Wir befinden uns immer noch in einer echten Stadt. Das Internet hat sie noch nicht verschwinden lassen. In New York wollen immer noch Leute ins Theater gehen, und darauf bauen wir. Hoffen wir, dass die Stadt nicht die Künstler verschwinden lässt. Noch haben wir die Performing Garage.

EL: Was die Arbeitsweise angeht, haben wir ja immer ­fragmentarisch gearbeitet. Und mit dem Aufkommen von Social Media ist das ein Teil unserer kulturellen Umgebung geworden.

Ihre Arbeiten haben immer auch die Wahrnehmung der Fragmentierung vermittelt, also auch eine Betrachtung der Kultur und wie sie uns prägt.

EL: So könnte man das sehen, ja. Aber schon das Fernsehen war ein Medium, das Fragmentierung zu einem scheinbaren Ganzen gemacht hat. Und das würde ich auch für meine Arbeit sagen, aus dem Fragmentierten ein Ganzes zu schaffen.

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