Theater der Zeit

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Auftritt

Deutsche Oper Berlin: Offene Räume

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill – Regie Benedikt von Peter, Bühne Katrin Wittig, Kostüme Geraldine Arnold, Licht Ulrich Niepel, Video Bert Zander

von Patrick Primavesi

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Musiktheater Dossier: Bertolt Brecht Benedikt von Peter Theater Basel Deutsche Oper Berlin

Die, die nach Mahagonny kommen, bringen Unzufriedenheit statt Geld – sie fressen und saufen sich zu Tode, vögeln und boxen sich ins Grab.
Die, die nach Mahagonny kommen, bringen Unzufriedenheit statt Geld – sie fressen und saufen sich zu Tode, vögeln und boxen sich ins Grab.Foto: Thomas Aurin

Sitzen vier Männer in Glitzeranzügen auf der Treppe zu einer U-Bahnstation im Berliner Westen. Singt der eine: „Wunderbar ist das Heraufkommen des Abends und schön sind die Gespräche der Männer unter sich.“ Darauf der andere „Aber etwas fehlt.“ Man kann sich auch eine Banane holen oder einen Sekt kaufen, schlafen oder vergessen, aber etwas fehlt. Daran ändert auch die Ankündigung eines Hurrikans nichts, der alles zerstören soll, dann aber einen Umweg macht. Denn, singt Jim Mahoney später: was sind die Schrecken eines Hurrikans oder Taifuns „gegen den Menschen, wenn er seinen Spaß will?“ Gerade darum geht es, „SPASS!“ steht mit großen roten Buchstaben auf einem weißen Banner am Eingang der Deutschen Oper Berlin. Dort ist die Feier schon im Gang, bevor die Aufführung von Kurt Weills und Bertolt Brechts Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930) in Benedikt von Peters Neuinszenierung begonnen hat, oder besser: die Feier ist die Aufführung. Und die Treppe zur U-Bahn ist eine der Schwellen, die das Publikum mehrfach überschreiten kann, da es vor und in dem Opernhaus an der Bismarckstraße ständig in Bewegung bleibt und eine Vielzahl von Perspektiven geboten bekommt. Freie Platzwahl und die Möglichkeit, nicht alles sehen zu können, sondern stets nur zufällige Ausschnitte, in unmittelbarer Nähe, größerer Distanz oder auch auf Videomonitoren vermittelt durch Live-Kameras, sind in der Performance Art seit über 50 Jahren etabliert, in der Oper dagegen eher selten.

Zum Ende der äußerst produktiven, 13 Jahre langen Intendanz von Dietmar Schwarz – der in den 1990er Jahren bereits am legendären Experiment der Europeras 1&2 von John Cage in Frankfurt/Main beteiligt war – hat Benedikt von Peter mit seiner Mahagonny-Inszenierung einen wegweisenden Versuch unternommen, auch für die Kunstform Oper offene Räume zu schaffen. Das bedeutet hier vor allem, die Situation der Aufführung zu entgrenzen und den Kontakt der Sänger:innen zum Publikum zu intensivieren. Zwar wurde mit dieser Oper, die seit ihrer skandalösen Leipziger Uraufführung als ein Hauptwerk des modernen Musiktheaters der Weimarer Republik gelten kann, schon viel versucht – mit szenischen Aktualisierungen wie mit der Rückführung auf den zeitgeschichtlichen Kontext des aufkommenden Faschismus im Deutschland der späten 1920er Jahre. Für seine berühmte Inszenierung an der Komischen Oper (Berlin 1977) hatte Joachim Herz noch die historisierende Vision, dass vorher, „in allen Foyers und Empfangshallen des Theaters vom Einlass bis zu Beginn der Vorstellung süße Schlagermusik dudelt aus den zwanziger Jahren“, um dann im Kontrast „die harte Tour“ der Oper erfahrbar zu machen. Von Peters Produktionsteam (Musikalische Leitung: Stefan Klingele, Chorleitung: Jeremy Bines, Bühne: Katrin Wittig, Kostüme: Geraldine Arnold, Video: Bert Zander, Dramaturgie: Sylvia Roth und Carolin Müller-Dohle) geht darüber weit hinaus, indem die gesamte Oper in das Raumgefüge der Foyers und Empfangshallen sowie gelegentlich nach draußen ausschwärmt. Projektionsapparate (schon zur Uraufführung für Caspar Nehers Szenenbilder eingesetzt) dienen dazu, das wandernde Spiel der Akteur:innen überall sichtbar zu machen (und ihnen den Kontakt zum Dirigenten zu ermöglichen, der mit dem Orchester auf der Hinterbühne die Stellung hält). Dabei geht es im Kern um eine Erfahrungsdimension, die schon Weill im Vorwort zum Regiebuch für diese Oper gefordert hatte: „Der Bühnenaufbau soll so einfach sein, dass er ebensogut aus dem Theater heraus auf irgendein Podium verpflanzt werden kann. Die solistischen Szenen sollen möglichst nahe an den Zuschauer herangespielt werden.“ Beim festlichen Spektakel in der Deutschen Oper tauchen die hervorragenden Solist:innen (vor allem Evelyn Herlitzius als Leokadja Begbick, Annette Dasch als Jenny und Nikolai Schukoff als Jim Mahoney) wie auch die zahlreichen mit Glitzer und bunten Perücken ausgestatteten Chorsänger:innen und Bewegungsstatist:innen immer wieder zwischen den Zuschauenden auf und schaffen eine ebenso unübersichtliche wie intensive, mitunter auch immersive Atmosphäre. Und dennoch: Die Partitur bleibt in Kraft, die Oper wird als solche aufgeführt und die Handlung erstaunlich kohärent erzählt – mithilfe der gut funktionierenden Video- und Tontechnik und einer dramaturgisch geschickten, aber unaufdringlichen Einbindung und Lenkung der Publikumsströme.

„Auf nach Mahagonny!“ ist der Slogan, mit dem die Unzufriedenen aller Kontinente in die haltlos gegründete Netzestadt gerufen werden, um ihre Ersparnisse dem Rausch zu opfern. Durchaus aktuell ist Brechts/Weills Szenario vom Umschlagen der Utopie einer völligen Bedürfnisbefriedigung in die Dystopie eines Konsumkapitalismus, in dem alles erlaubt ist außer: kein Geld zu haben. Der neuen Berliner Inszenierung gelingt es, diese große Oper vom fröhlichen Untergang mit der Erweiterung musiktheatraler Spielräume zu verbinden und das Publikum der eigenen Sucht nach Spass auszusetzen. Irgendwie passend, dass in Berlin („arm aber sexy“) nur 5 rasch ausverkaufte Vorstellungen zu sehen waren. Die gute Nachricht: Die (Ko-)Produktion wird (allerdings in neuer Besetzung) ab Ende August schon an die Oper Basel übernommen und dort erstmal bis Ende Oktober gespielt. Also: Auf nach Basel!

Erschienen am 22.7.2025

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