Theater der Zeit

Film

Film als Tür zum Nachbarn

von Friedrich Luft

Erschienen in: Theater der Zeit: Zeittheater oder Theater der Zeit? (07/1946)

Assoziationen: Kritiken Europa International Berlin Dossier: Bühne & Film

Anzeige

Anzeige

Durch viele Jahre war sie zugeschlagen, verriegelt und verrammelt. Nach dem Westen stand bis Kriegsanfang zuweilen noch ein Spalt offen. Oder man sah sozusagen ministerieller Genehmigung durch das manchmal unverstopfte Schlüsselloch; man sah eine Reihe amerikanischer, französischer Filme in peinlichster Auswahl. Nach Osten war die Tür zur Welt vermauert.

Es kamen Freunde aus dem Ausland gereist zuweilen und berichteten filmische Wunderdinge, gewagte Themen, neue Techniken im Schnitt, in der Handhabung der Musik, in der Kamerabewegung, in der Farbe. Dem landläufigen Deutschen war der Blick nach dort verwehrt. Ihm wurde sein Schlag voll Vergnügen nach Feierabend autark und diktatorisch zugeteilt. Vor jeder zweiten Seite eines noch so harmlosen Drehbuches begab sich ein ministerielles Schütteln des Kopfes. Und es ist hoch anzurechnen, wenn trotz all der beamtlichen Stöcke, die den Filmmenschen behördlich vor die künstlerischen Beine geworfen wurden, hin und wieder doch beachtliche Streifen gelangen. Käutners „Romanze in Moll“ braucht sich auch jetzt noch nicht zu verstecken, da der scharfe Wind einer Weltrivalität von der Berliner Leinewand weht. In „Auf Wiedersehen, Franziska“ waren, abgesehen von dem aufgepappten, törichten Schluß, ein paar Passagen, die haften blieben und auch jetzt noch nicht verwischt sind. So wären rare Beispiele zu nennen.

Aber die Masse war doch redlich und merkbar durch das feinmaschige Sieb der Unkultur am Wilhelmsplatz gegangen. Die Unfreiheit des künstlerischen Ellenbogens, das ängstliche Ausweichen vor allen Ecken und Fragen des täglichen Tages, die Flucht in die Vergangenheit, Harmlosigkeit als Rettung – das eine oder das andere war allen Streifen anzuspüren.

Film ist die jüngste, noch fragwürdige Gattung der Kunst. Sie müßte die aktuellste sein. Dokument aus Licht und Schallen. Genauester und schnellster Reflex des Tages: Neben Traumfabrik und Unterhaltungsmaschine – fixierter Alltag, bewegliche Bilderzeitung, Spiegel des Tages und seiner Nöte und Fragen. Das Zelluloidband ist nicht nur I,icht-, es ist hochgradig politikempfindlich. Soziale Mißstände, wollen sich da anklagend niederschlagen. Jeder Ansatz zu einem neuen Lebensgefühl drängt an die Leinwand. Überlebte und hemmende Fossilien überalterter Gesellschaftstypen sind nirgends so augenfällig zu machen und so komisch oder so radikal wegzuräumen wie hier. Wo die Bühne auf Differenzierung und dichterische Überhöhung bedacht ist – der Film geht in Breitenwirkungen vor. Sein Amt ist, Geschichten zu erzählen. Und vornehmlich Geschichten der Zeit. Spiegelungen unserer selbst. Seine Stärke ist der visuelle. Elan, der sich dem von neuen Bildern bedrängten Zuschauer mitteilt.

Der deutsche, Film ist erst wieder zu entdecken. Bis dahin bleibt dem Auge in den Kinos genug zu tun, den Nachbarn zu suchen, das Bild des Menschen wie ich und du; nur daß er in England, in Rußland, Amerika oder Frankreich zu Hause ist. Wenn jetzt ein Jahr vergangen ist, in dem der Kinobesucher durch die geöffnete Tür vierfach in das Gesicht des Nachbarn sehen kann, wenn er durch die Objektive der großen Produktionsländer sah und betrachten konnte: den Nachbarn, die Umwelt, in der er lebt, der eigenen entsprechend – wenn der deutsche Filmfreund Neugierde hatte nach dem „kleinen Manne“·von jenseits der Grenzen – was sah er? Hat er ein festes und klares Bild vom Alltag des Nachbarn? Kennt er ihn besser? Versteht er ihn brüderlicher? Sieht er ihn klar?

Nur bedingt. Und das hat mehrfache Gründe. Wenn hier aus den noch günstigen Erfahrungen Berlins gesprochen wird, so vervielfachen sich die Schwierigkeiten, bezieht man sie auf das ganze Land. Der Film jeder der vier Besatzungsmächte bleibt vorerst noch im eigenen Sektor, beziehungsweise in der eigenen Zone. Das ist zu beklagen. Aber Anzeichen und Anfänge zu Austausch und Erweiterung des Blickfeldes bahnen sich an. Berlin, w.ie in vielem, gibt hier sein Beispiel. Und schon hat, beispielsweise, der erste Filmaustausch zwischen russischer und amerikanischer Besetzungszone stattgehabt. Anfang und Hoffnung immerhin.

Aber noch ist es nirgends so, daß sich der hartnäckige, Besucher des kleinen Stammkinos schon den Blick nach allen vier Richtungen weiten könnte. Noch kommen die Völker und ihre Verkörperung im Film nicht mühelos zu ihm. Selbst in Berlin muß er reisen, will er nicht einseitig bleiben. Und wer kann das schon, abgesehen von einigen Fanatikern der Leinewand und den besoldeten Filmreferenten? Der Austausch ist immer neu zu fordern.
Aber auch dem, der alles gesehen hat, was die vier Besatzungsnationen an die deutschen Lichtspielhäuser geben, drängt sich das deutlich-volle Bild des Nachbarn von jenseits der Grenze noch nicht auf. Denn was der deutschen Leinwand an Fremdem zukommt ist weitgehend zufällig und oft überaltert. Niemand wird es den Filmfirmen verargen, wenn sie nicht die neuesten und kostspieligsten Kopien in ein Land geben, das nicht in der Lage ist, mit seiner Währung auch nur eine minimale Leihgebühr zu erlegen. Hier wartet noch Klärung.

Dazu kommt, daß Frankreich, durch die Besetzung vier Jahre gehindert, eine neue und freie Produktion in noch nicht anlaufen lassen konnte. In England ruhte sie während des Krieges fast ganz. Und auch die Streifen, die als besonders künstlerisch geschildert werden, haben meist einen deutlichen Kriegshintergrund, den heute auf unsere Leinwand zu projizieren kaum angängig ist und psychologisch nicht ratsam wäre.

Trotzdem: das Bild des Nachbarn formt sich langsam, wenn auch noch, vage und unscharf. Nur Konturen sind zu erkennen. Und oft ein deutliches und liebenswertes, verwandtes Gesicht, das man grüßt.

Aus Amerika kam es erstaunlicherweise am klarsten in einem gemäßigten Kriminalfilm, den der berühmte Hitchcock drehte: „Im Schatten des Zweifels“. Das Drehbuch von Thornton Wilder. Da war es in einer beiläufig erregenden Handlung tatsächlich, als höben Autor und Regisseur das Dach von dem landläufigen und zufälligen Hause einer Dutzendkleinstadt. Und da waren sie plötzlich alle. Die Familie, jeder mit Schrullen und Fehlern genügend behaftet. Die Mutter, die Träume der Jugend am Herde unter dem Kochtopf verbrennend, liebevoll, etwas enttäuscht vom landläufigen Leben und doch das wärmende Zentrum der Familie. Der Vater, nah der Bequemlichkeit des Alters, immer noch jungenhaft durchtrieben, seinem Beruf wie seinem Hobby ergeben. Die Jugend des Hauses, bereit, die Welt zu umarmen, sich eine Erkältung holend in der ersten Zugluft des Schicksals und heimkehrend wieder unter das schützende Dach des Alltags. Nirgends wieder hat man den Geruch des täglichen Tages in Amerika so liebevoll und so menschlich fixiert gefunden wie hier. Der Nachbar von drüben lebte. Man verstand ihn. Er war nicht mehr fremd.

Der Franzose stellt sich, in den wenigen und zufälligen Beispielen, die wir sahen, als differenziertes und mutvolles Individuum dar. Da ist ein Eigenraum um jeden Menschen. Die Kamera tastete sich hier immer besonders behutsam und künstlerisch an ein Eigenleben heran. Am sinnfälligsten wohl in „Der Engel der Nacht“. Eine Pariser Studentenclique, die armselig-fröhlich miteinander lebt, durch den Krieg blutig getrennt wird. Und der Held kehrt heim, erblindet, und beginnt ein mutiges, neues Leben. Vorerst störrisch und falsches Mitleid fürchtend, dann auch heimkehrend in die tapfere Gemeinsamkeit der jungen Gruppe. Ein Schicksal, in seiner individuellen Grausamkeit möglich in jedem Lande des Krieges. Aber hier so völlig französisch, mit künstlerischer Delikatesse gehandhabt, in seiner Nationalität unverwechselbar. Dabei in seinem Thema allgemein. Das verstand man. Und man liebte den jungen, tapferen, störrischen Blinden und seine arme, lebensfreudige Rotte differenzierter Kameraderie.

Den russischen Film zu verstehen macht dem kleinen Mann vor der deutschen Leinwand Schwierigkeiten. Sein Auge ist an westliches Tempo gewöhnt. Die russische Technik ist breit und hinhaltend geworden, seit wir sie mit ihrer filmrevolutionären Epoche an der Wende zum Tonfilm aus den Augen verloren. Damals g alt für den Sowjetfilm, dem eigenen Lande und der Welt den stürmischen Elan der Revolution ins Bewußtsein zu bringen. Der Film erfand sich die stürmische Technik der Eisenstein, Pudowkin und anderer fruchtbarer Avantgardisten. Jetzt kommt nicht mehr Revolution von der Filmszene, sondern Hinführung zu beharrlicher Arbeit, Aufbau des sozialen Lebens in Gemeinschaft. Tägliche Mühe als Ethos am Ganzen. Das jagt nicht mehr bildwirksam durch die Straßen der Städte. Sondern es beharrt arbeitsam und geduldig an der Scholle des Landes. Der Sowjetfilm hat, soweit man es bisher erkennen kann, seine didaktische Epoche. Er propagiert eine Arbeitsmoral. Er läßt nie das Ganze aus dem Auge, wenn er das Objektiv auch auf den einzelnen richtet. Am glücklichsten immer dann, wenn er die Fülle der Musik zu Hilfe nimmt. „Sie trafen sich in Moskau“ heißt das Beispiel. Auch noch im heiteren Musikfilm unversehens die Belehrung, wie das private Glück erst aus dem glücklichen Dienst an der Gemeinsamkeit wächst. Hirten und Bauern. Nördliche- Berge und ukrainische Weite. Der Nachbar des Ostens war an der Leinwand. Und man grüßte ihn.

Aus England kam er am typischsten bisher mit „Ich weiß, wohin ich gehe“. Einsetzend als kurz- und hinreißend geschnittenes Filmlustspiel, kommt dieser Film unversehens nach dreihundert fast grotesken Metern an den kleinen, schottischen Menschen. Beweis auf Zelluloid, wie moderne Menschen sicher, behaglich und unversehrt an der Substanz, noch im Überkommenen wohnen können. Wie die grandiose Natur noch Teil des Tages in einem sonst quicklebendigen und äußerst heutigen Leben ist. Wie man wächst, ohne die Wurzeln zur Heimat auszureißen. Ein Schlüssel zum Verständnis des britischen Nachbarn.

Die Beispiele wären zu erweitern. Sie sind gegeben, um anzudeuten, welch ein Glück es bedeutet, die Welt nunmehr wieder an der Leinwand zu haben, an Stelle des so oft verzerrten Bildes nur unserer selbst. Und mit welch aufmerksamer Neugier wir die Augen offenhalten sollten für die liebenden oder sorgenden Züge des Nachbarn von jenseits der Grenzen. Und daß man das Kino nicht nur benutze als beiläufige Ausspannung am Abend, sondern auch noch im trivialsten Lustspiel als – endlich geöffnete Tür zum Nachbarn.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"