Brief
Unterwegs in der Welt: Die Marmolada-Installation
Brief aus Polen: Im Rahmen der Feierlichkeiten zur Kulturhauptstadt Europas war das Theater der Jungen Welt mit seiner szenischen Installation »Marmolada // Home sweet home« in Breslau. Über die Kunst der Improvisation und viel Marmelade im Botanischen Garten Breslaus
von Jürgen Zielinski
Erschienen in: 70 Jahre Zukunft – Theater der Jungen Welt Leipzig (03/2017)
Assoziationen: International Akteure Performance Europa
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Mehr als 2500 Besucher erlebten »Marmolada // Home Sweet Home«, eine performative und musikalische Installation des Theaters der Jungen Welt im Botanischen Garten der polnischen Stadt Breslau. Das TdJW war als einziges deutsches Theater für das FLOW-Festival am Samstag, den 11. Juni, einem der vier größten Events im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Wrocław 2016, an die Oder eingeladen.
Das Vorspiel:
Internationale Kooperationen haben einen enormen Reiz – aber auch ihre Tücken. Das sollte man wissen. Dennoch sind sie eine Bereicherung und eröffnen zumeist auch einen neuen Erfahrungsfundus für die Theaterarbeit.
Ebensolchen machte ich persönlich unter anderem, als ich in Pakistan für das Goethe-Institut inszenierte und auch mit unserer länger angelegten Kooperation mit drei israelischen Theaterinstitutionen.
Die vor mehr als einem Jahr begonnene und im Juni 2016 erfolgreich abgeschlossene Arbeit in Breslau/Wrocław hatte jedoch eine besondere Dimension. Fünf Vorreisen, ein Treffen in Berlin, ein Besuch der Assistentin des Kurators in Leipzig. Daneben machte sich in Polen der Regierungswechsel sowie der Rechtsruck bemerkbar. Kunst und Kultur stehen jetzt unter einer anderen Beobachtung. Erst im Dezember 2015 kündigte der neue Kulturminister Piotr Gliński an, dass zukünftig die staatlichen Zuschüsse für Theater anders verteilt werden. Für seine Rede vor internationalem Publikum bei der Eröffnungsveranstaltung der europäischen Kulturhauptstadt Wrocław 2016 im Januar 2016 wurde Gliński von vielen Anwesenden ausgepfiffen und ausgebuht.
Zurück zu Marmolada: Ende Mai gab es endlich fünf Tage Vor- bzw. Kennenlernproben mit den polnischen Künstlern und unseren Ensemblemitgliedern in Leipzig. Parallel plötzlich Finanzierungsirritationen. Zunächst sollte alles möglich sein, dann steht plötzlich nur noch die Hälfte des besprochenen Budgets zur Verfügung. Missverständnis oder entstandene Engpässe? Nicht zu klären, weil überflüssig. Frage war: Absagen oder erneut reduzieren? Absagen wäre schmerzlich. Dass wir uns dennoch darauf eingelassen haben, lag daran, dass bereits zu viel Arbeit investiert wurde, intensiv recherchiert und viele Interviews mit ehemaligen Breslauern und nach dem Zweiten Weltkrieg neu Zugezogenen getätigt, Mengen von Marmeladengläsern und -inhalten organisiert, Bühnenelemente im Bau waren. Außerdem waren wir auch vom performativen Konzept äußerst überzeugt und schon vor langer Zeit hatten die Musiker Atonor sowie Hilde Kappes und Michael Rodach zugesagt. Kurz: Erst fünf Minuten vor Beginn der Premiere(n) in Breslau wurde der Vertrag gemeinsam mit der angereisten Verwaltungsdirektorin des Theater der Jungen Welt, Lydia Schubert, und mir unterzeichnet.
Die Kunst:
Zwölf Stationen werden in der Probenwoche im schönen großen Botanischen Garten in Breslau installiert. Im Vorfeld wird mal auf Probebühnen im Kulturzentrum Impart und vor Ort probiert.
Aufgrund der Kürze der Zeit verdichten sich die Probenzeiten. Wartezeiten (kein Ton zur Probe vorhanden, Ruder für die zwei Boote sind nicht auffindbar, zu späte technische Einrichtungen) fordern uns enorm. Dennoch ist Lust und Wille des bilateralen Ensembles und Teams ungebrochen. Auch wenn plötzlich am Tag der Generalprobe die Proben unterbrochen werden müssen, weil ein Reh, das sich in den Garten verlaufen hat, gefangen werden soll. Nach zehn Stunden kommt es zum nahezu ersten (Nacht-)Durchlauf …
Premiere:
Auf ganz unterschiedliche Art und Weise ging das Theater der Jungen Welt der Frage nach dem Geschmack von Heimat nach: mit Schauspiel, Tanz, Puppenspiel, Soundinstallationen, Performances in der einzigartigen Kulisse des Botanischen Gartens in Breslau nach. In sechs Rundgängen, über den ganzen Tag verteilt, konnten die Besucher dieser einmaligen performativen Installation beiwohnen. Ein gemeinsames Eröffnungskonzert der deutschen und polnischen Akteure machte simple Marmeladengläser zu klangvollen Instrumenten und war Auftakt einer Reise in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschiedlicher Vorstellungen von Heimat, an deren Ende ein internationales Marmeladenpicknick auf alle Zuschauer wartete. Nach den vorgesehenen sechs Abläufen (!!) vor begeisterten Zuschauern (ob das alles Theatergänger waren, bezweifle ich …) vergessen wir vor Erschöpfung, uns zu gratulieren. Sekt gibt es nicht. Wohl nicht üblich in Polen :) Kurzes Innehalten, Umziehen dann noch Abbau! Alle (!) helfen. Dann geht es zum performativen Großfeuerwerk von Chris Baldwin. Dramaturgin Winnie Karnofka und mir stellt sich plötzlich die Frage: Wurde hier ein Teil unseres Etats verschossen. Sei es drum. Am nächsten Tag und auch später: ein zufriedenes Ensemble, zufriedene Gäste (der verrückte Michael Rodach: Es war Arbeit und Urlaub in toller Atmosphäre).
Das Nachspiel:
Internationale Kooperationen bereichern. Insbesondere wenn der Schmerz nachlässt! Das Team und Ensemble vom Theater der Jungen Welt verwandelte zusammen mit den Musikern Hilde Kappes, Michael Rodach, dem Leipziger Klangensemble ATONOR sowie polnischen Akteuren den Botanischen Garten in einen kulturellen und kulinarischen Erinnerungsraum. Zwölf unterschiedliche Stationen erzählten von Heimat und Küche, Erinnerung und Essen sowie Gedächtnis und Geschmack als Ausdruck der verwobenen Vielfältigkeit der Einwohner von Wrocław und seiner Diaspora in Europa und der Welt. Das TdJW ist in der Welt angekommen.
aus: Die Deutsche Bühne. Das Theatermagazin für alle Sparten. Köln 9/2016, S. 32f.