Theater der Zeit

Magazin

Kunst gegen alle Widerstände

Nele Hertling erzählt ihr Leben und Wirken innerhalb einer großen Dokumentation: Ins Offene. Nele Hertling – Neue Räume für die Kunst Hg. Johannes Odenthal im Auftrag der Akademie der Künste, Spector Books Leipzig, zweisprachig deutsch und englisch, 368 Seiten, 200 Abb., 29 Euro

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Akteure Berlin

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Wer heute ins Berliner HAU geht oder Tanz im August besucht, betritt damit ihr Werk. Viele wissen, dass Nele Hertling das Berliner Hebbel Theater in den neunziger Jahren zum damals beinahe einzigen Ort für regelmäßige internationale Gastspiele machte und dass das berühmte Tanzfestival auch etwas mit ihr zu tun hat. Aber Genaueres wird schon nicht mehr erinnert, denn diese Institutionen sind ja nicht nur Theatergeschichte, sondern auch aus kulturpolitischen Verhältnissen heraus entstanden, die schon längst einer anderen Epoche angehören. In Berlin wird diese liebevoll „das alte West-Berlin“ genannt, aber die Sache ist doch komplizierter und vor allem mit diesem Buch als Teil einer wichtigen Internationalisierung des deutschen Theaters zu verstehen, die bis heute wirkt.

1934 in Berlin geboren, war die Kindheit in der Nazizeit gefahrvoll davon überschattet, sich mit der jüdischen Mutter, der Pianistin Cornelia Schröder-Auerbach, auf dem Land verstecken zu müssen. Zunächst in Bayern, dann in einem Dorf in Mecklenburg, wo die Mutter als Organistin unterkam. In dem Pfarrhaus mit vielen Kindern, so erzählt Hertling es der Choreografin Reinhild Hoffmann in einem ausführlichen Gespräch, wurden diese zum Theaterspielen angehalten. Die Kinder hängten für ihre Aufführung ein Plakat auf, vor dem sie dann selbst immer wieder lesend standen, um die Aufmerksamkeit von anderen darauf zu lenken. Eine Urszene ­dessen, wie Nele Hertling daran beteiligt ist, für Ungewöhnliches zu interessieren.

Nach dem Abitur in Rostock studiert sie bis 1958 Germanistik und Theaterwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und geht dann mit ihrem Mann, dem Architekten Cornelius Hertling, nach London, aber bereits nach einem Jahr wieder zurück nach Berlin. Der Bau der Mauer verschlägt sie in den Westteil der Stadt, wo sie schließlich 1962 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der acht Jahre zuvor neu gegründeten Akademie der Künste (West) in den Abteilungen Musik und Darstellende Kunst tätig wird.

Hier erlebte sie den Aufbruch der Künste in den sechziger Jahren - die Akademie war darin ein Ort internationaler Akteure wie für die in den USA offiziell beargwöhnte Living Theatre oder für die tanzavantgardistischen Arbeiten von Merce Cunningham, und Hertling war an der Programmarbeit intensiv beteiligt. Neue Themen und Ausstellungs­konzepte wurden entwickelt, das Haus am Hanseatenweg war lange das Epizentrum für die westliche Neoavantgarde und richtete dabei auch immer wieder den Blick Richtung Osten, der ja in Doppel-Berlin besonders politisch war.

Das Buch erzählt davon mit zahl­reichen Archivalien, faksimilierten Briefen der Beteiligten, Veranstaltungsplakaten und Begegnungsfotos. Eine reiche Zeit, bei der man unbedingt das Gefühl hat, Nele Hertling war für immer am richtigen, weil interessantesten Ort. Doch dann beginnt gegen Ende der achtziger Jahre ein anderer Teil ihres ­Arbeitslebens, in dem sie selbst neue Institutionen schafft. Das fängt 1987 mit dem Programm zur 750-Jahr-Feier Berlins an, dann 1988 mit der Arbeit für die Kulturstadt Europas (heute das Prädikat Kulturhauptstadt ­Europas), für die sie sich von der Akademie löst, und gipfelt mit der Gründung von Tanz im August 1988 und im großen Jahr 1989 mit der Etablierung des damals leerstehenden Hebbel Theaters als Ort für internationale Performance, Tanz und Theater. Nele Hertling, die aus ihren Erfahrungen an der Akademie die Grenzen des deutschen Theatersystems immer im Auge hatte, seine für äußere Einflüsse kaum empfängliche Systemstarrheit, nutzte sozusagen die letzte Stunde des alten West-Berlins für revolutionäre Taten, insbesondere für die größere Beachtung des zeitgenössischen Tanzes und neue Performance-Ästhetiken, die für immer als Pionierarbeit gelten werden.

Davon zeugen auch die teils sehr ­persönlichen Dankesbekundungen von den Künstlern Robert Wilson, Jo Fabian, Joachim Schloemer, Sasha Waltz oder Anne Teresa De Keersmaeker sowie von wichtigen Networkern wie damals Steve Austen, dem für die Vermittlung der flämisch-niederländischen Szene verdienstvollen Hugo de Greef und heute Kathrin Deventer. Heiner Goebbels schickte eine Kopie der „Kinderhymne“ von Brecht/Eisler, in der er die ersten Zeilen mit „Anmut sparst Du nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand“ mit einem kleinen handschriftlichen Eingriff im Text zum Notensatz auf Hertling-Stand brachte. //

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