Marianna Salzmann, Sie haben „Hurenkinder Schusterjungen“ geschrieben, nachdem Sie im vergangenen Jahr in Istanbul waren, als dort im Mai die Proteste gegen Tayyip Erdogan und seine Regierung losbrachen. Wie haben Sie als Außenstehende die Demonstrationen erlebt?
Ich habe acht Monate in Istanbul gelebt und mich in die Stadt verliebt. Ich wollte alles wissen, wollte alles verstehen. Das ist bei einer Stadt wie Istanbul nicht einfach. Ich habe mich viel mit Gentrifizierung befasst, war mit Aktivistinnen und Aktivisten, Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftlern unterwegs. Mir schien alles, die Kultur, die Art zu leben, sehr nah. Obwohl ich zum ersten Mal in Istanbul war, hatte ich das Gefühl, vieles schon zu kennen. Aus Deutschland eben. Ich habe das theoretisch gewusst, dass Deutschland und die Türkei geschichtlich zusammengehören. Ich wusste um die Folgen der Neosklaverei der ersten Gastarbeitergeneration, ich wusste um das enge Verhältnis zwischen dem Sultan und Wilhelm II. Und um die deutsche Beteiligung am armenischen Genozid. Aber das waren alles Informationen aus Geschichtsbüchern. Als ich vor Ort war, wurde Geschichte zu Menschen. Zu konkreten Erlebnissen. Es gab an jedem Ort, in jedem Raum, in dem ich war, jemanden, der/die Deutsch sprach und/ oder Verwandte in Deutschland hatte.
Es gibt in der Türkei ein...