3 Aspekte der Analyse
Symbiosen und Konkurrenzen: Das Zusammenwirken von auditiven und visuellen Elementen
in Operninszenierungen
von Clemens Risi
Erschienen in: Recherchen 133: Oper in performance – Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen (08/2017)
Assoziationen: Wissenschaft Musiktheater Staatstheater Nürnberg Staatsoper Stuttgart Salzburger Festspiele

In den Diskussionen um Operninszenierungen gehört die Frage, wie Musik und Szene zusammenwirken, ob sie sich ergänzen, verdoppeln oder gar widersprechen, zu den am häufigsten gestellten. Die Antworten gehen jedoch nur selten über pauschale Bemerkungen hinaus. In Kapitel 2.4 wurde mit der intermodalen Integration und Synchronisierung im Sinne der Gestaltwahrnehmung eine mögliche wahrnehmungstheoretische Orientierung für die Verzahnung von Musik und Szene diskutiert, und in Kapitel 2.1 wurde eines der möglichen Verhältnisse von auditiven und visuellen Elementen konkret benannt: die szenische Beglaubigung oder Legitimation von formalen oder strukturellen Eigenarten des musikalischen Verlaufs. So haben sich, wie erwähnt, sowohl Peter Sellars in seiner Don Giovanni-Inszenierung1 als auch Calixto Bieito in seinen Inszenierungen des Don Giovanni2 sowie der Entführung aus dem Serail3 die Frage gestellt, wie sich in der Arie der Donna Anna im zweiten Akt des „Non mi dir“ der Affekt- und Tempowechsel vom Larghetto zum Allegretto moderato4 oder die endlosen Koloraturketten der Konstanze in ihrer Arie „Ach ich liebte, war so glücklich“5 legitimieren und beglaubigen ließen. Die Inszenierungen finden Lösungen in der Manipulation der Körper der Donna Anna und der Konstanze durch Drogen bzw. Sex.
Zur weiteren Erläuterung dieser Verfahrensweise der szenischen Legitimation musikdramaturgischer Umschlagspunkte möchte ich einen bereits klassisch zu nennenden Text aus der musikwissenschaftlichen Opernforschung heranziehen, Carl Dahlhaus’ Aufsatz „Zur Methode der Opern-Analyse“,6 den der Autor als Beitrag zu seinen Bemühungen verstanden wissen will, „eine Opernästhetik zu entwickeln, die weniger vom sprachlich-musikalischen Text als vom Theaterereignis ausgeht“.7 Am Beispiel des Duetts Susanna/Figaro im Finale des vierten Aktes von Mozarts Le nozze di Figaro benennt Dahlhaus auf der Ebene der Handlung genau dieses Vorgehen, die Suche nach Legitimation für musikalische Spezifika – also den auch und besonders im sogenannten Regietheater praktizierten Ansatz, formale und strukturelle Eigenarten des musikalischen Verlaufs szenisch zu beglaubigen – als entscheidend für das Inszenieren von Opern. Dahlhaus schreibt:
„Das Duett ist im Gesamtumriss dreiteilig, prägt also […] eine geschlossene Form aus. Den Beginn des Mittelteils markiert Figaros fingierte Werbung um die ‚Gräfin‘ […], den des Schlussteils die Ohrfeige, mit der Susanna das Versteckspiel zu beenden glaubt […]. Die musikalischen Zäsuren sind also szenisch begründet, sodass die musikalische Form als musikalisch-dramatische Form sinnfällig wird.“8
Ein weiteres fruchtbares Beispiel für die szenische Legitimation von musikalischen und musikalisch-textlichen Besonderheiten ist Claus Guths Inszenierung von Mozarts Le nozze di Figaro bei den Salzburger Festspielen aus dem Jahr 2006, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt. Das Finale der Oper weist einige Stellen auf, an denen zwar die Affekte und Motivationen der Figuren extrem verschieden, aber der Text im gemeinsamen Ensemblegesang der gleiche ist. Dahlhaus konstatiert „Komplikationen“, die
„daraus resultieren, dass sich die Intrigen gegenseitig durchkreuzen, sodass im Grunde die handelnden Personen ihre Schachpartien nicht gegeneinander, sondern gegen einen übermächtigen Zufall spielen […]. Dass Cherubino die als Susanna verkleidete Gräfin zu verführen sucht, während Susanna, der Graf und Figaro – jeder für sich und unbemerkt von den anderen – den Vorgang kommentieren, ist als Situation szenisch unmissverständlich, ohne dass es auf die Details des Textes ankäme. Wenn Susanna, der Graf und Figaro, gleichsam chorisch, dieselben Worte benutzen (‚Ah! nel sen mi batte il core‘), meint jeder etwas anderes: Susanna sieht durch Cherubino die Intrige der Gräfin gefährdet, der Graf fürchtet die Vereitelung des Rendezvous mit ‚Susanna‘, Figaro ist von Eifersucht geplagt.“9
Doch selbst bei dieser Verwicklung, so Dahlhaus, greife das „Prinzip der pantomimischen Verständlichkeit“.10 Wirklich zeigen könnte das allerdings nur eine konkrete Inszenierung.11
Nach dem fälschlicherweise an den Grafen adressierten Kuss Cherubinos singen Gräfin, Graf, Susanna und Figaro gemeinsam den Text „Ah ci ha fatto un bel guadagno“12 (Notenbeispiel 4), obwohl sie gemäß der üblichen szenischen Realisierung gerade räumlich und affektiv isoliert sind. Wie also das „Prinzip der pantomimischen Verständlichkeit“ realisieren? Die Guth-Produktion gibt eine szenisch sehr eindrückliche Antwort: Ein – dem bekannten Figurenarsenal von Le nozze di Figaro hinzugefügter – Engel (der als alter ego Cherubinos erscheint) führt die Figuren wie an Fäden (Abbildung 6) und vereint sie momentweise alle zu einem Haufen.
Man könnte sogar auf den Gedanken kommen, die Inszenierung sei einer weiteren interpretatorischen Anregung von Dahlhaus gefolgt. Der Engel könnte nämlich als Verkörperung des – mit Dahlhaus gesprochen – in diesem Finale regierenden „übermächtigen Zufalls“13 gelesen werden. Eine ähnliche Situation stellt sich am Ende der Aufführung bei der sehr schnell – eigentlich zu schnell – einsetzenden, Versöhnung versprechenden Wendung „Ah tutti contenti“ nach dem „Contessa perdono“ des Grafen14 her, wenn der Engel alle Figuren zum Finale organisiert.
Auch in Peter Konwitschnys Hamburger Inszenierung von Wagners Lohengrin15 lassen sich Beispiele für die Verzahnung von Musik und Szene im Sinne einer Legitimation und Beglaubigung musikalischer Besonderheiten ausmachen. Schon der Komponist selbst forderte wie kaum je zuvor eine enge Verknüpfung von Musik und Szene in der Aufführungspraxis. In Wagners szenischen Vorschriften für die Aufführung des Lohengrin in Weimar 1850 heißt es: „Auf genaues Zusammentreffen der Handlungsmomente mit der Musik muss über alles streng gehalten werden.“16 Dass in Konwitschnys Inszenierung eine so große Lust an der Musik wahrgenommen werden kann, die Momente einer ganz engen Verzahnung von Musik und Szene produziert, kann durchaus auch als Antwort auf diese Forderung Wagners verstanden werden und soll hier an zwei Situationen demonstriert werden: an Elsas Auftritt aus dem Schrank im ersten Akt und der quietschenden Tür des Klassenzimmers, in dem die ganze Handlung situiert ist (Abbildung 7),17 und an Ortruds Einlage als musikdramaturgische Akteurin an der Orgel am Ende des zweiten Aktes.
In vielen Lohengrin-Aufführungen bleiben die Zuschauenden und Zuhörenden mit der Frage zurück, wieso es eigentlich so lange dauert, bis Elsa nach dem Ruf des Heerrufers und den vielen Fragen König Heinrichs endlich ihre ersten Töne singt, ihren ersten Satz verlauten lässt: „Mein armer Bruder“.18 Wieso müssen eigentlich alle Beteiligten musikalisch so lange auf sie warten? Die Antwort – so suggeriert die Inszenierung von Peter Konwitschny – ist ganz einfach: weil sie sich aus Überforderung mit der Situation (der Verlust des Bruders, die Anklage, ihn umgebracht zu haben, eine maßlose Anklage, mit der sich schlecht umgehen lässt) im Schrank des Klassenzimmers versteckt hat. Elsa (in der DVD-Aufzeichnung: Emily Magee) will sich der Situation nicht stellen, kann sich ihr nicht stellen. Sie traut sich nicht aus ihrem Versteck heraus. Zwar macht sie mehrmals Anstalten, das Versteck zu verlassen, indem sie die Schranktür langsam öffnet (Abbildung 8), aber der Mut verlässt sie sogleich, und sie schließt die Schranktür sofort wieder.
Mit diesem Einfall wird der durch die Pausen musikalisch extrem gestaute, verlangsamte Moment, der häufig genug durch peinlichste mimische Gebärden der armen Elsa-Sängerinnen gefüllt wird, augenblicklich sinnfällig. Das Zuschlagen der Schranktür produziert dabei ein deutlich vernehmbares Extra-Geräusch, ebenso wie die Tür des Klassenzimmers, die eines der Schulmädchen nach dem Ruf des Heerrufers nach Elsas erträumtem Streiter aufmacht, um zu schauen, ob vielleicht schon ein Streiter hinter der Tür steht. Die Tür des Klassenzimmers quietscht und dies mitten in die Generalpause hinein. Die Reaktion auf das Quietschen bei mir als Zuschauer und Zuhörer ist eine zwiespältige: Zunächst aufgeschreckte Abwehr, die aus der Konsterniertheit resultiert, dass die Stille der Musik durch so etwas Profanes wie ein Quietschen gestört wird. Doch eröffnet die Störung auch ein produktives Potenzial: Der Moment der Stille wird durch die Störung vergrößert. Ja, die Stille wird dadurch eigentlich erst hörbar, weil als gefährdet wahrgenommen. Diese Erfahrung weist auf eine für Opernaufführungen dominierende Wahrnehmungseinstellung hin, die zwischen willkommenen und nicht willkommenen, relevanten und irrelevanten akustischen Ereignissen zu unterscheiden vermag und die auch in Hinsicht auf die Wechselwirkung von Auditivem und Visuellem wirksam wird. Die Welt in der Oper macht Lärm auch jenseits des in der Partitur Vorgeschriebenen, als Operngänger hat man gelernt, das auszublenden. Das Zuschlagen und Quietschen von Türen macht auch darauf aufmerksam, dass es in der Aufführungspraxis der Oper ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass außer den in der Partitur vorgeschriebenen akustischen Zeichen nichts zu hören sein darf. Dabei hatte Wagner selbst durchaus etwas für die Geräusche der Welt übrig und mit diesen auch gerechnet bzw. sie sogar eingefordert. Wenn auch nicht das Quietschen oder Zuschlagen einer Tür, so doch etwa den Lärm herannahender Pferde. In den bereits zitierten szenischen Vorschriften für die Aufführung 1850 in Weimar schlägt er für die Ankunft der verschiedenen Heerhaufen im dritten Akt vor, dass Pferde nur eben bis zur Kulisse herauskommen und sogleich zurückgeführt werden sollen. Dass Pferde selbst dann Geräusche von sich geben, wenn sie nur eben bis zur Kulisse herauskommen, dass sie Geräusche machen, auch wenn sie sogleich zurückgeführt werden, und dass Wagner damit rechnete, wird überdeutlich, wenn man weiterliest, dass er sogar Ersatzgeräusche einforderte, falls keine echten Pferde zur Verfügung stünden: „Müssen die Pferde durchaus ganz fortbleiben, so möge ein Versuch gemacht werden, wie wenigstens […] das Geräusch eines heransprengenden und haltenden Reiters hinter der Szene nachgeahmt werden kann.“19 Das Quietschen der Tür ist auch so ein Geräusch der Welt jenseits der musikalischen Klänge, das, wenn es sich nicht auf natürliche Weise ergibt, wohl imitiert werden müsste.
In der zweiten Situation in Konwitschnys Lohengrin-Inszenierung, die hier diskutiert werden soll, verbleibt die Verzahnung des musikdramatischen Umschlags mit der szenischen Aktion auf der Ebene des Auditiven innerhalb des Klanggeschehens der Musik. Am rechten vorderen Rand des Klassenzimmers, das für den zweiten Akt auch als Münster und zur Hochzeitszeremonie genutzt wird, befindet sich ein Orgelpositiv mit einer Bank davor, auf der eine Schülerin als Organistin Platz genommen hat. Am Schluss des zweiten Aktes, beim Hochzeitszug in das Münster, quetscht sich Ortrud (in der DVD-Aufzeichnung: Luana DeVol) auf die Orgelbank, verjagt die eigentliche Orgelspielerin, pustet in die Hände wie eine Handwerkerin und beginnt, mit großer Inbrunst, die Tasten zu schlagen (Abbildung 9). Mein erster Gedanke: Ja, natürlich muss sich Ortrud an die Orgel setzen, weil ja die Hochzeitsmusik gleich durch das Frageverbotsmotiv unterbrochen werden wird. Die Ursache dafür ist ja Ortrud, also wird Ortrud wohl auch das Frageverbotsmotiv selbst spielen und nicht – wie sonst – bedeutungsschwere Blicke mit Elsa wechseln. Doch entgegen meiner Erwartung interagiert Ortrud nicht mit Elsa, sondern kostet das Musizieren genüsslich aus, ohne sich auch nur im Geringsten um Elsa und das ertönende Frageverbotsmotiv zu kümmern.20 Das nagende Frageverbotsmotiv bricht nicht durch Ortruds Intervention über Elsa herein, sondern steckt schon in Elsa selbst – darum muss sich Ortrud keine Sorgen mehr machen. Das Unglück würde auch ohne Einmischung Ortruds seinen Gang nehmen, wie Peter Konwitschny und sein Dramaturg Werner Hintze es einmal formuliert haben. Das Unglück liegt im System selbst, dem System des Frageverbots. Ortrud kann sich ganz der Theatralik und dem Pomp einer Kirchenszene widmen und diese – musikalisch – mitgestalten. Sie, die große Tragödin, die sich zur Beschwörung der „entweihten Götter“ zuvor bereits mit Kriegsfarben bemalt hatte, hat offenbar ein Faible für imposante Szenen.
Es sind zwei musikalische Spezifika dieses Finales – die Gestaltung als musikalisch pompöse Kirchenszene und die Unterbrechung durch das Frageverbotsmotiv –, über die mich die Aufführung aufgrund von Ortruds Orgelspiel hat nachdenken lassen und damit mein Wissen über die Oper, wenn nicht verändert, so doch neu und nachhaltig beeinflusst hat.
Die bisherigen Beispiele haben den Zusammenhang von Musik und Szene, die Verzahnung von Auditivem und Visuellem, von der Musik her, also vom Ausgangsmaterial her betrachtet. Welche musikalischen Eigenarten liegen vor, die durch eine szenische Eigenart beglaubigt werden? Aus der Perspektive der Wahrnehmung ließe sich formulieren, dass hier die szenischen Vollzüge auf die musikalischen Ereignisse reagieren bzw. der Szene aus der Musik heraus ihre Berechtigung zugesprochen werden kann.
Das Faszinierende am Zusammenwirken von Szene und Musik in der Opernaufführung ist aber, dass das Verzahnen als intermodale Integration und Synchronisierung nicht nur in diese eine Richtung funktioniert, sondern ebenso andersherum funktionieren kann, dass also die musikalische Wirkung aus einem visuell wahrnehmbaren Ereignis heraus erfolgen kann bzw. eine bekannt geglaubte Musik sich im Moment der Aufführung durch das gleichzeitig wahrgenommene visuelle Angebot in der akustischen Wirkung verändern kann.
Eine der zentralen Entscheidungen von Sebastian Baumgartens Bayreuther Inszenierung von Wagners Tannhäuser21 das Bühnenbild betreffend war, die gesamte Inszenierung in einer Art Installation spielen zu lassen (Abbildung 10). Es handelte sich um eine Installation des Bildenden Künstlers Joep van Lieshout, eine abgeriegelte Welt wie eine Fabrik, in der die Arbeiter auch leben und schlafen und in der sowohl die Venusberg- als auch die Wartburg-Szenen stattfinden. Der Venusberg ist unter der Plattform für die Wartburg-Szenen situiert, eine Art Käfig für wilde Tiere, tierähnliche Menschen sowie für Venus (Abbildung 11). Mich beschäftigt bei dieser Aufführung insbesondere die Frage, was mit dem wohlbekannten Werk und seinem Figurenarsenal passiert, wenn man dieses Setting, die Installation, als ein Labor betrachtet. Was sind die Konsequenzen oder die Ergebnisse dieses Experiments, Tannhäuser in einem geschlossenen System spielen zu lassen?
Eine der ersten und auffälligsten Konsequenzen war, dass die Aufführung damit ein ganz neues Licht auf die Musik warf. Die Wahrnehmung der wohlbekannten Tannhäuser-Musik war völlig verändert. Dies lag zu einem großen Teil am Dirigat von Thomas Hengelbrock und seiner Interpretation der Partitur. Er konzipierte sein Dirigat aus der Perspektive von Wagners Vorgängern, aus der Perspektive der Deutschen Romantischen Oper, etwa eines Carl Maria von Weber. Zu hören war ein sehr leichter, transparenter, zuweilen sehr schneller Wagner mit vielen unerwarteten Tempowechseln. Aber es war nicht nur, vielleicht nicht einmal an erster Stelle, Hengelbrocks Dirigat, das mich die Musik anders wahrnehmen ließ. Allein schon die Installation auf der Bühne zu sehen – eine raumfüllende Fabrik mit Maschinen und Arbeitern –, während ich die Musik hörte, änderte meine Wahrnehmung der Musik grundlegend. Es war die Wahrnehmung des Gesehenen, der mechanisierten Handlungsvollzüge der Fabrikarbeiter in diesem technizistischen Ambiente, die die akustische Wahrnehmung prägte. Selten habe ich die Venusbergmusik so technisch, im besten Sinne so wenig schwülstig gehört, so klar und virtuos. Zu erleben war, wie eine Aufführung, wie ein visuelles szenisches Angebot hier insbesondere durch die Rauminstallation und die in und mit ihr vollzogenen Handlungen von Statisterie und Chor die Wahrnehmung von Musik maßgeblich und nachhaltig prägte und – im Verhältnis zu den als Retention in die Aufführung „mitgebrachten“ Erinnerungen an den Klang dieser Musik – zu verändern vermochte.
Grundiert in Baumgartens Tannhäuser die szenische Realität die auditive Wahrnehmung über den gesamten Verlauf der Aufführung hinweg, so ermöglicht Kasper Holtens Lohengrin-Inszenierung22 eine besondere Wahrnehmungserfahrung bei der bekannt geglaubten Musik einer einzelnen Szene, nämlich des Vorspiels. Zu den sphärisch-ätherischen Klängen des Lohengrin-Vorspiels öffnet sich der Vorhang über einem Schlachtfeld im Zustand der Verwüstung, also nach dem Ende einer Schlacht, mit zahllosen Toten und Verwundeten. Die Aufführung beginnt – gemessen an der vertrauten Vorlage – gewissermaßen nach dem Ende des Lohengrin, mit der Schlacht, zu der König Heinrich die Mannen von Brabant zusammenrufen und die offensichtlich mit großen Verlusten einhergehen wird. Wir sehen die toten und verwundeten Mannen auf dem Boden liegen. Frauen gehen durch die Reihen und suchen nach ihren Männern – Frauen, die wie Klageweiber in die Orchesterklänge des Vorspiels hinein plötzlich deutlich vernehmbare, laute und gequälte Schreie ausstoßen.
Die ätherisch-sphärische Wunder-Musik des Vorspiels verwandelte sich durch das, was gleichzeitig zu sehen und zu hören war, in ihrer Wirkung auf mich in einen Trauermarsch, als den ich diese Musik nie zuvor gehört hatte. Der eigentlich so kurze fortissimo-Mittelteil mit der Dominanz der Blechbläser,23 bevor das Vorspiel wieder im pp ausklingt, geriet plötzlich zum alles bestimmenden akustischen Eindruck: statt Ankündigung eines überirdischen Wunders Klage, Trauer und Wut.
Weniger als Umprägung der emotionalen Tonlage (Lohengrin-Vorspiel) oder der atmosphärischen Grundierung des zu Hörenden (Tannhäuser) denn als konkrete Transformation der Zeitwahrnehmung lässt sich das Zusammenwirken des Auditiven mit dem Visuellen in meiner Erfahrung der Stuttgarter Inszenierung von Verdis Don Carlo durch Jossi Wieler und Sergio Morabito24 charakterisieren. Der musikalische Abschluss des Bildes, in dem sich Carlo eigentlich in das Kloster San Juste/San Giusto zurückzieht, in der Inszenierung jedoch in einen Kreis von Männern gerät, die in ihren Zeitlupen-Bewegungen und Posen an Kendo-Kämpfer erinnern (Abbildung 12), erschien mir mit dem nochmaligen Erklingen des Freundschaftsmotivs ausgesprochen langsam, ja langgezogen. Als Abschluss eines musikalisch-szenischen Zusammenhangs, in dem in erster Linie Kendo-Übungen zu sehen waren, und der dadurch etablierten Zeitstruktur wirkte diese musikalische Gestaltung jedoch sehr schlüssig, so, als habe der Rhythmus der Bewegung einen direkten Einfluss auf die musikalische Gestaltung genommen (auch wenn davon auszugehen ist, dass Dirigent Lothar Zagrosek seine ganz eigene Tempovorstellung hatte und wohl auch durchgesetzt hat). Vorgeschrieben ist „Tempo I“,25 was sich auf den Beginn des Abschnitts „Allegro assai moderato“26 bezieht. Die Metronomangabe lautet: Viertel = 84. Zagroseks Stuttgarter Viertel habe ich deutlich langsamer in Erinnerung. Aber vielleicht überschrieb hier meine subjektive Zeiterfahrung die nur vermeintlich an der Metronomangabe verifizierbare und objektivierbare Wahrnehmung des musikalischen Tempos, und ich habe den Schluss der Szene lediglich aufgrund der sichtbaren Handlungen langsamer gehört. Ich nehme an, dass in meiner Wahrnehmung der visuelle Rhythmus verändernd auf den musikalischen Rhythmus eingewirkt hat. Auch wenn meine subjektive Erinnerung die einzige Quelle für das Erlebte ist, konnte ich nicht widerstehen, Zagroseks Tempo anhand einer Videoaufzeichnung einer Aufführung zu messen. Zu Beginn des Freundschaftsduetts27 ist das Tempo tatsächlich langsamer als das vorgeschriebene (Viertel = 76) und am Schluss der Szene noch ein wenig langsamer (Viertel = 72).
Noch ein weiterer Fall einer solchen Transformation der akustischen Wahrnehmung – hier einer Arie – durch visuell wahrnehmbare szenische Handlungen sei herangezogen, an dem sich insbesondere das Funktionieren von Erwartungen erläutern lässt. In Balázs Kovaliks Inszenierung von Verdis Il trovatore28 am Staatstheater Nürnberg findet der Conte di Luna zu Beginn seiner Arie an die abwesende Leonora („Il balen del suo sorriso“29), in der er das himmlische Strahlen der Augen der für ihn unterreichbaren Begehrten besingt, eine unbekleidete Schaufensterpuppe (Abbildung 13), an die er seine Arie zunächst richtet, bevor er sie für Andeutungen sexueller Handlungen benutzt. Lunas Arie ist häufig einer der Höhepunkte einer Trovatore-Aufführung, unter anderem aufgrund der enormen Herausforderungen, die die Arie wegen ihrer hohen Tessitura an jeden Bariton stellt. Häufig müssen die Sänger aufgrund der hohen Ansprüche bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, zuweilen auch darüber hinaus gehen, sodass die Arie zu einer nervenaufreibenden Erfahrung für alle Beteiligten – Sänger wie Publikum – gerät, was jedoch dem in dramatischer Hinsicht besonderen Moment durchaus zuträglich ist, nämlich im Sinne einer Bedeutungszuweisung als Grenzerfahrung: Extreme und unerfüllte Liebe verursacht zuweilen, dass man in seiner Ausdrucksfähigkeit nicht mehr Herr seiner Mittel ist.
Diese den Aufführungsmoment mit einkalkulierende, außergewöhnlich emotionale Situation wird in der Inszenierung Kovaliks insofern völlig verändert, als die Szene auf visueller Ebene sexualisiert und fetischisiert wird. Damit wird meine Antizipation (Protention) eines der herausragenden Liebeslieder der Opernliteratur durch die gleichzeitig zu sehenden Handlungen an der Schaufensterpuppe empfindlich irritiert. Die erwartete Wirkung der Arie wird durch die Szene übermalt und stellt sich so nicht ein. Gleichzeitig produziert die Szene eine solche Diskrepanz bzw. Reibung zwischen auditiver und visueller Ebene, dass sie die Besonderheiten der jeweiligen Ebene recht eigentlich betont, im Falle der musikalischen Ebene vielleicht sogar erst hervorruft. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ob ich schon vor der Erfahrung dieser Szene in der Nürnberger Aufführung eine derart gesteigerte Erwartung hatte, ein „schönes“ Liebeslied zu hören („schön“ im Sinne des Nicht-Gefährdeten, Ungebrochenen), oder ob diese Erwartung nicht erst im Moment der enttäuschten bzw. zerstörten Erwartung als solche produziert wurde. Die Reibung hat möglicherweise erst nachträglich eine Erwartung kreiert, die bis dahin so nicht vorhanden war.
Dieses Beispiel mag als Beleg für Jens Roselts These fungieren, dass es sich bei der Erfahrung der enttäuschten Erwartungen im Theater sehr häufig um jene von der Phänomenologie formulierte „diastatische Verschiebung von Ursache und Wirkung“ handelt:
„Wenn man von Erwartung spricht, sollte man also nicht jene mechanistische Annahme unterstellen, dass Zuschauer notwendig mit einem fertigen Register von Erwartungen ins Theater gehen und diese dort wie auf einer Strichliste abhaken, um am Ende Bilanz zu ziehen. Vielmehr werden die Erwartungen erst produziert im Moment ihrer Enttäuschung. Dabei handelt es sich um jene diastatische Verschiebung von Ursache und Wirkung. Die Enttäuschung ist gewissermaßen die Wirkung, die ihrer Ursache, nämlich der Erwartung, vorausgeht.“30
Ein Widerspruch zwischen Musik und Szene, wie er im Falle der Luna-Arie zu erleben war, eine ähnlich produktive Reibung ereignete sich auch in zahlreichen Szenen der Bieito-Inszenierung von Mozarts Entführung aus dem Serail, etwa in Konstanzes erster Arie „Ach ich liebte, war so glücklich“.31 Hier bot die Musik eine Art Trost für die Martern, denen das Auge ausgesetzt war. Die mögliche Wahrnehmung des musikalischen Geschehens als Erfahrung von Schönheit und historischer Entrücktheit in vielen Passagen trat in einen produktiven Widerspruch zu dem auf der Bühne zu Sehenden. Dem Ohr eröffnete sich eine Hoffnungs- und Erlösungsdimension, eine Utopie, die dem Auge versagt blieb.
Wie stark die Aufführung eine solche ausgleichende, eine Utopie von Heilung versprechende Dimension der Musik hervortrieb, zeigte sich vielleicht nirgends deutlicher als zu Beginn des dritten Aktes, als Bassa Selim nach dem Duett Konstanze/Belmonte32 ganz langsam von hinten nach vorne zu den beiden kam, zu Konstanze gewendet sagte: „Jetzt kommt der letzte Akt, Baby“ – und eine lange Stille eintrat. Bassa nahm Konstanze die Fesseln ab und entsicherte seine Pistole. Die Antizipation dessen, was nach all den Gräueln, die bereits zu sehen waren, jetzt noch kommen mochte, ließ mich ebenso wie viele andere Zuhörende und Zuschauende erstarren. Der ganze Raum des Theaters (Bühne wie Zuschauerraum) war erfüllt von dieser andauernden Stille. Bassa überreichte Konstanze die entsicherte Pistole. Damit entließ er sie in die Freiheit und gab ihr zugleich die Freiheit, über das Ende zu bestimmen. Sie tötete Bassa und schließlich auch sich selbst. Mir kommt es weniger auf dieses veränderte Finale an, als auf den Moment der Stille. Die Stille auf der Bühne war unerträglich. Das Bedürfnis, die Spannung durch die erlösende Kraft der Musik zu entladen, wurde zu einem körperlichen Bedürfnis, das sich schließlich wieder körperlich manifestierte – in einem lauten Zwischenruf eines Zuschauers: „Musik!“ Es wurde nach Musik verlangt, um die Stille nicht ertragen zu müssen. Es war hier nicht die Aktion oder die Emotion, die die Musik als einzig glaubhafte Ausdrucksform für eine Situation beglaubigte, sondern es war die Situation, die unerträglich geworden war und aus der heraus Musik eingefordert wurde, um sie zu beenden.33
Wahrnehmungsgeschehen und die Zuschauerreaktion bei Bieitos Entführung zeigen, wie ein szenischer Vollzug, der mit einer unerwartet lange anhaltenden akustischen Pause einhergeht, die Antizipation von Musik zur Entladung einer angestauten Anspannung hervorbringt. Dass solche Transformationen der musikalischen Ebene durch die visuelle sich nicht nur in der Wahrnehmung ereignen, sondern szenische Momente einer Aufführung auch eine eigene produktive Kraft hinsichtlich der performativen Prozesse entfalten, also ganz konkrete Auswirkungen auf den musikalischen Verlauf, die Performance der musikalischen Ebene haben können, zeigte eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni in der Inszenierung von Calixto Bieito an der Staatsoper Hannover.34 Mehrfach waren an diesem Abend falsche Einsätze oder Anschlüsse der Sängerinnen und Sänger zu hören, die in meiner Wahrnehmung alle auf das hohe Spieltempo und Energieniveau der Darstellung zurückzuführen waren. Die Sängerinnen und Sänger wirkten auf mich hochmotiviert und energiegeladen, ihre Körper und Stimmen bis an die Grenzen führend und, angestachelt vom szenischen drive, auch musikalisch die Tempovorstellungen des Dirigenten überbietend. Der Dirigent mit seinem Orchester schien der energischen Spiellaune bzw. dem Vorwärtsdrang nicht hinterherzukommen. Am Auseinanderdriften von Stimmen und Orchester waren die Tempoveränderungen auf Seiten der Sänger deutlich bemerkbar. Ereignet hatte sich also nicht nur eine Veränderung der jeweils anderen Modalität in der Wahrnehmung, sondern offensichtlich auch in der Produktion. Die musikalische Performance wurde von der szenischen beeinflusst.
Wenn die Sängerdarstellerinnen und Sängerdarsteller in der Aufführung sich in ihrer Performance von den szenischen Vollzügen beeinflussen lassen und individuell anders reagieren, dann erscheint es nur logisch und folgerichtig, dass Produktionsteams diese Sensibilität gleich in eine Veränderung des musikalischen Ausgangsmaterials überführen.
Dies kann durch eine Straffung oder Streichung von Dialogen oder Rezitativen geschehen, wie es häufig praktiziert wird, durch die Streichung oder Hinzufügung von Arien oder anderer Nummern, oder aber auch durch die Neu-Instrumentierung bestimmter Passagen. Besonders eindrücklich in dieser Hinsicht war die Erfindung der Rolle des Rezitativisten in Christoph Marthalers Salzburger Figaro-Inszenierung,35 erfunden für den Musiker, Sänger und Schauspieler Jürg Kienberger und seine hochvirtuosen Rezitativbegleitungen und -einlagen. Claus Spahn schrieb in seiner Premierenkritik:
„Jürg Kienberger bedient nicht nur sein Keyboard, er spielt auch mit befeuchteten Fingern Arien auf gestimmten Weingläsern [Abbildung 14]. Einmal, von Leidenschaft jäh gepackt, beginnt er zwischen zwei Szenen zu jodeln, und er kann sogar eine Rezitativbegleitung auf zwei Bierflaschen blasen. Dies ist sein tollstes Kunststück: Jeder Schluck aus den Pullen ist so genau bemessen, dass er einen (fast) sauber intonierten Kadenzton ergibt.“36
Der Einsatz der Materialien (also auch des musikalischen Materials) scheint hier der Konzeption einer Inszenierungsidee zu folgen, die sich als Versammlung von Sonderlingen in der Virtuosität des Details, des Nie-Gehörten, beschreiben ließe. Die Aufführung war ein Plädoyer für die Absonderlichkeiten und Absurditäten des Lebens, eine rührende wie atemberaubende Präsentation voller Komik und Melancholie.
Ein noch deutlicherer Eingriff in musikalische und dramaturgische Kontinuitäten eines bestehenden Werks, einer Partitur, ist in den Fällen gegeben, in denen nicht mehr Mozarts Figaro oder Don Giovanni in Neuinszenierungen auf dem Spielplan stehen, sondern aus verschiedenen Zusammenhängen Einzelteile zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt werden, wie zum Beispiel im Fall der Musiktheater-Tanztheater-Kreation Wolf, oder wie Mozart auf den Hund kam, geschaffen vom Choreographen Alain Platel und dem Dirigenten Sylvain Cambreling, zusammen mit Les Ballets C. de la B., drei Sängerinnen, dem Klangforum Wien und 15 Hunden.37 Hier gibt es gar kein Werk mehr, auf das man eine Interpretation beziehen könnte. Hier ist schon vom Ansatz her ein anderer Zugriff gefragt. Man könnte Wolf als ein Stück beschreiben, in dem es um nationale und kulturelle Konflikte in der Vorstadt geht, um Vereinsamung und Verwahrlosung, Unmenschlichkeit und Hoffnungslosigkeit, um Verständigungsschwierigkeiten, aber – vor allem – um die Suche nach Verständigung über Musik und Bewegung. Hier stellen alle – Tänzerinnen, Tänzer und Sängerinnen – ihre Körper und Stimmen als Material zur Hervorbringung der Aufführung zur Verfügung.
Explizit ausbuchstabiert wurde die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Aufführung, als der gehörlose Darsteller Kurt Vanmaeckelberghe, der sich in der Aufführung als aufgrund seiner Behinderung sozial und künstlerisch Ausgeschlossener präsentierte, zum Domine Deus aus Mozarts c-moll-Messe KV 427 (neu instrumentiert mit Akkordeon, zwei Bratschen, zwei Celli und Kontrabass) sehend und fühlend erfahren soll, was Musik ist, wozu Musik in der Lage ist. Die Sängerinnen Aleksandra Zamojska, Ingela Bohlin und Marina Comparato ließen ihn an ihren Körpern die Körperlichkeit des Klangs beim Singen fühlen, und die Tänzerin und Luftakrobatin am Vertikaltuch Juliana Neves aus Brasilien ließ ihn sehen, wie Mozarts Musik die atemberaubende Wirkung eines schwebenden Körpers produzierte.
In einer anderen Szene wurden Dorabellas Arie „Smanie implacabili“ aus Così fan tutte, erster Akt,38 gesungen von einer Sängerin, und eine Breakdance-Nummer eines Tänzers zusammengebracht. Jede der beiden Ebenen trug ihre eigene Bedeutung, hatte ihren eigenen Kontext (etwa das Wissen um die dramaturgische Funktion der Arie in Così fan tutte, die Ängste, die Dorabella in ihrem emotionalen Durcheinander bedrängen: die Notwendigkeit und Irritation, sich der Situation einer Trennung aussetzen zu müssen). Im Dialog von Gesang und Bewegung vermischten sich die Mittel und Kontexte (Mozarts Musik, Stimme und Aktion der Sängerin, Bewegungen des Tänzers) zu neuen Fragen und Antworten auf die Bedingungen unserer Gegenwart, die uns die performative Realität naherückte: Wer fürchtet sich hier vor wem? Wer versucht, wen zu beeindrucken, zu bedrängen? Bezogen auf die eingesetzten Materialien stellte sich zudem die verblüffende Erkenntnis ein, wie gut der Bewegungsduktus und -rhythmus von Breakdance über die Jahrhunderte hinweg zu Mozarts Musik passt und umgekehrt.
Es waren dies zwei Momente, in denen Szene und Musik kontinuierlich auseinanderdrifteten und sich auf verblüffende Weise wieder vereinigten. Der Breakdancer folgte dem Rhythmus der Sängerin, oder war es die Sängerin, die dem Rhythmus des Breakdancers folgte? Die Tänzer, die im Hintergrund das Gegenwicht zu den zwei Vertikaltüchern bildeten, in denen die Akrobatin schwebte, folgten dem Rhythmus der Akrobatin, die dem Rhythmus der Musik folgte, oder war es die Musik, die dem Rhythmus der Akrobatin folgte?
Das Nicht-Entscheidbare, die Unauflösbarkeit der Frage von Ursache und Wirkung macht die besondere Qualität einer solchen intermodalen Wahrnehmung einer Opernaufführung aus. Was mich an diesem und den vorangegangenen Beispielen besonders interessiert, ist also nicht die Frage, inwiefern die szenischen Realisierungen etwas zutage fördern, das in den aufgeführten Partituren schon angelegt ist und dort schlummert, bis es durch eine Interpretation ans Licht gebracht wird, sondern was zu dem Material der Partitur hinzu- und in Interaktion (auch Reibung) mit der vermeintlich bekannten Musik in ihrer vermeintlich bekannten klanglichen Realisierung tritt. Szene und Musik befinden sich in einem Dialog, der uns die Musik anders hören lässt, die Musik anders erklingen lässt.
Zu Beginn des Kapitels wurde über den von Claus Guth in seiner Figaro-Inszenierung erfundenen Engel gesagt, dass diese szenische Lösung als Möglichkeit angesehen werden kann, bestimmte musikalische Eigenarten der Opernkomposition szenisch zu beglaubigen. Doch haben weder der Librettist Da Ponte noch der Komponist Mozart einen solchen Engel für ihren Figaro vorgesehen. Hier wird etwas deutlich, das eigentlich zur grundlegenden Eigenart jeder Opernaufführung zählt, aber in der Beschäftigung mit Opernaufführungen gerne übersehen wird: die Tatsache nämlich, dass jede Inszenierung der Vorlage etwas hinzufügt und damit etwas Neues schafft. Dass sie in einen Dialog, auch durchaus in Reibung oder zuweilen sogar in Widerspruch mit der Vorlage tritt. Dieses „Neue“, das über eine neue (weitere) Interpretation hinausgeht, da es die Realität, die im Hier und Jetzt des Aufführungsgeschehens hervorgebracht wird, in Rechnung stellt, komplementiert und erweitert jenes Konzept von Oper als Dialog und Reibung zweier Ebenen, wie es etwa Carl Dahlhaus in „Zur Methode der Opern-Analyse“ formuliert hat: „Der ‚reale‘ Text, mit dem Figaro um die ‚Gräfin‘ wirbt oder zu werben vorgibt, wird von einem ‚irrealen‘ begleitet, mit dem Susanna einem Zorn Luft macht, dessen Sprache die Musik ist.“39 Was Dahlhaus an der Oper rühmt, nämlich die Möglichkeit, auf zwei Ebenen gleichzeitig zu sprechen und damit eine Situation durch die Reibung und den Widerspruch interessant zu machen, ist genau das, was das sogenannte Opernregietheater mit Klassikern macht und was dessen Gegner heftig an ihm kritisieren: nämlich der Schichtung aus Text und Musik noch eine weitere Ebene hinzufügen, die das Beziehungsgefüge, das Netz, den „Beziehungszauber“ (wie Dahlhaus das Ereignis Oper so sinnig beschreibt40) anreichert und kompliziert. Neue, bisher unbekannte sowie auf die Vorlage nicht zurückführbare Erfahrungen werden möglich, die im Dialog mit der bekannten Vorlage die Wahrnehmung der Aufführung interessant machen. Die Aufführung einer Oper lässt sich also keineswegs als Verstärkung einer Seite – des Textes oder der Musik – denken, sondern kreiert immer auch etwas Neues, davon nicht Vorprägbares, das sich nirgends anders als in der Aufführung einstellen kann.
1Premiere beim Monadnock Music Festival, Manchester (NH) 1980; Wiederaufnahmen: PepsiCo Summerfare, Purchase (NY) 1987; Wiener Festwochen 1989; Videoaufzeichnung Decca 1991.
2English National Opera London 2001, Staatsoper Hannover 2002.
3Komische Oper Berlin 2004.
4Mozart, Wolfgang Amadeus: Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni KV 527, hrsg. von Wolfgang Plath und Wolfgang Rehm, in: Mozart: Bühnenwerke, Kassel u. a. 1968 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke NMA, II/5, 17), S. 388.
5Mozart: Die Entführung aus dem Serail, S. 129f.
6Dahlhaus, Carl: Zur Methode der Opern-Analyse, in: ders.: Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München 1989, S. 11–26.
7Ebd., S. 11.
8Ebd., S. 23.
9Ebd., S. 20. Vgl. dazu Mozart, Wolfgang Amadeus: Le nozze di Figaro KV 492, hrsg. von Ludwig Finscher, in: Mozart: Bühnenwerke, Kassel u. a. 1973 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke NMA, II/5, 16), S. 521, T. 26.
10Dahlhaus: Zur Methode der Opern-Analyse, S. 20.
11Deutlich wird an dieser Stelle, dass es eine Differenz zwischen Dahlhaus’ Begrifflichkeit des Szenischen und meiner Auffassung gibt. Da Dahlhaus in diesem Text nie von konkreten Aufführungserfahrungen spricht, kann es sich bei ihm eigentlich nur um aus der Lektüre-Erfahrung und der dramaturgischen Analyse der Text- und Partiturgrundlage gewonnene, imaginierte szenisch-gestische Momente handeln. Streng genommen, müsste Dahlhaus’ Begriff des Szenischen durch das Wort „dramatisch“ ersetzt werden, da es sich um eine Kategorie aus der schriftlichen Fassung der Oper und ihren Kontexten vor der Realisierung in einer konkreten Aufführung handelt. Vgl. Dahlhaus: Zur Methode der Opern-Analyse, S. 20 und 23.
12Mozart: Le nozze di Figaro, S. 527, T. 40.
13Dahlhaus: Zur Methode der Opern-Analyse, S. 20.
14Mozart: Le nozze di Figaro, S. 579, T. 430.
15Hamburgische Staatsoper 1998, Gran Teatre del Liceu Barcelona 2000 (mit DVD-Aufzeichnung 2006), Oper Leipzig 2009, erlebte Aufführungen am 28.4.2001 (Hamburg) und 18.12.2009 (Leipzig).
16Wagner, Richard: Szenische Vorschriften für die Aufführung des „Lohengrin“ in Weimar 1850, in: ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 16, Leipzig 1914, S. 73.
17Zu möglichen Bedeutungen der Verortung der Handlung in einem Klassenzimmer vgl. Kapitel 3.2.
18Wagner, Richard: Lohengrin WWV 75, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7, I, hrsg. von John Deathridge und Klaus Döge, Mainz (Schott) 1996, S. 45, T. 308f.
19Wagner: Szenische Vorschriften für die Aufführung des „Lohengrin“ in Weimar 1850, S. 72.
20Wagner: Lohengrin WWV 75, S. 288, T. 2099f.
21Bayreuther Festspiele 2011, erlebte Aufführungen am 20.7.2011 (Generalprobe) und 19.8.2011.
22Deutsche Oper Berlin 2012, erlebte Aufführung am 25.4.2012.
23Wagner: Lohengrin WWV 75, S. 8, T. 51–56.
24Oper Stuttgart 2001, erlebte Aufführung am 23.1.2001.
25Verdi, Giuseppe: Don Carlos. Edizione integrale delle varie versioni in cinque e in quattro atti, Riduzione per canto e pianoforte (Klavierauszug). Revisione secondo le fonti a cura di Ursula Günther e Luciano Petazzoni, Bd. 1, Milano (Ricordi) 1980, S. 147.
26Ebd., Bd. 1, S. 140.
27Ebd.
28Staatstheater Nürnberg 2012, erlebte Aufführung am 3.11.2012.
29Vgl. Verdi, Giuseppe: Il trovatore. Partitura d’orchestra (nuova edizione riveduta e corretta), Milano (Ricordi) 1955, S. 179–205.
30Roselt: Erfahrung im Verzug, S. 36.
31Mozart: Die Entführung aus dem Serail, S. 119–131.
32Ebd., S. 396.
33Dieses Auseinandertreten von Musik und Szene kann – wie beschrieben – durchaus reizvoll und wirkungsvoll sein. Die Heftigkeit des visuell Wahrgenommenen tritt in einen Kontrast zur Intensität der Erfahrung von Musik, und beide Ebenen stärken sich gegenseitig durch die Konkurrenz. Das Auseinandertreten kann aber auch die Wahrnehmung der jeweils anderen Komponente abschwächen. Eine in diesem Sinn unproduktive Diskrepanz entstand im Fall der Entführung, wenn die Musik zu elegant oder zu leicht oder zu zart oder zu schön oder zu langsam klang für die Drastik und das Tempo der sichtbaren Handlungen. Ein so empfundenes Defizit lässt sich aus beiden Richtungen formulieren. Entweder aus der Position: das Visuelle erschlägt die Musik, oder umgekehrt aus der Position: die Musik hemmt die Aktion. Folgt man der ersten Position, wäre eine mögliche Konsequenz für eine Produktion, die visuelle Seite zu verändern. Folgt man der zweiten Position, wäre eine mögliche Konsequenz für ein Produktionsteam, die akustische Seite zu verändern, also in die musikalische Vorlage einzugreifen.
34Staatsoper Hannover 2002, erlebte Aufführung am 2.3.2002.
35Salzburger Festspiele 2001, erlebte Aufführung am 11.8.2001.
36Spahn, Claus, in: Die Zeit 32, 2001.
37Uraufführung bei der Ruhrtriennale 2003, erlebte Aufführungen am 8.6.2003 als Gastspiel in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin und 17.5.2004 im Rahmen des Berliner Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele.
38Vgl. Mozart, Wolfgang Amadeus: Così fan tutte ossia La scuola degli amanti KV 588, hrsg. von Faye Ferguson und Wolfgang Rehm, in: Mozart: Bühnenwerke, Kassel u. a. 1991 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke NMA, II/5, 18), S. 120–129.
39Dahlhaus: Zur Methode der Opern-Analyse, S. 21.
40Ebd., S. 25f.