Auftritt
Schauspielhaus Bochum: Gefühle sind Schwäche
„Das große Heft“ nach Agota Kristóf in einer Übersetzung von Eva Moldenhauer – Regie Jette Steckel, Bühne Florian Lösche, Kostüm Pauline Hüners, Musikalische Leitung Mark Badur, Video Zaza Rusadze
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Jette Steckel Schauspielhaus Bochum

Gefühle sind Schwäche. Wer ein Gewissen hat, stirbt. Nur die Rücksichtslosen können einen Krieg überleben. Und die beiden Zwillinge in Agota Kristófs Roman „Das große Heft“ wollen auf keinen Fall sterben. Sie protokollieren die Übungen, mit denen sie sich abhärten, körperlich wie emotional. Diese Aufzeichnungen sind das „große Heft“. Einmal stehen sie sich gegenüber, Gesicht an Gesicht, und wiederholen so lange einen Satz ihrer Mutter, bis die Worte ihre Bedeutung verlieren. „Ich liebe euch, ich liebe euch, ich liebe euch.“ Nach einigen Minuten klingen die Stimmen gleich und tonlos.
In ihrem Roman zeigt Agota Kristóf eine völlig verrohte Gesellschaft. Mord und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung, auch der Pfarrer verfolgt nur seine eigenen Interessen. Eine Mutter weiß nicht, wie sie ihre beiden Söhne ernähren soll. Sie bringt die Zwillinge zur Großmutter aufs Land. Die Großmutter reagiert überhaupt nicht erfreut, sie hat die Kinder noch nie gesehen. Sie ist eine knallharte Frau, die sich niemals wäscht, von morgens bis abends arbeitet und wenn sie mal muss, einfach auf den Boden uriniert.
Ein Fünfer-Ensemble spielt alle Rollen. Das ist nichts Originelles, so ähnlich funktioniert gerade jede zweite Literaturbearbeitung auf der Bühne. Doch die Regisseurin Jette Steckel schafft klug Orientierung, Pierre Bokma ist immer die grantig-kantige Großmutter, Linde Dercon bleibt die Mutter der Zwillinge, die einzige Figur, die ein bisschen Mitgefühl in die Geschichte bringt. Die Situationen sind klar erzählt, es gibt viele Dialoge, nur manchmal erinnern Erzähltexte daran, dass hier ein Roman inszeniert wird.
Die mit Erde bedeckte Bühne von Florian Lösche zeigt einen Wald aus langen schmalen Stahlstangen. Wenn sich das Ensemble hindurch bewegt, verursacht es ziemlich viele Geräusche. Die Stangen können hochfahren und in verschiedenen Kombinationen wieder herunter kommen. So öffnen und verengen sich die Räume. Karsten Riedel am Schlagzeug und Matthias Jakisic an der elektronischen Violine begleiten den ganzen Abend live. Ein mal roher und oft auch sehr subtiler Soundtrack, den Mark Badur komponiert hat.
In zwei Stunden erzählt Jette Steckel den Roman im ruhigen Rhythmus mit vielen Denkpausen. Auf Aktualisierungen verzichtet sie, die parabelhafte Geschichte der Zwillinge, die in sich alle Menschlichkeit abtöten, braucht keine Hinweise auf die Gegenwart. Sie passt genau auf eine Zeit, in der wieder über Wehrdienst und Kriegstüchtigkeit debattiert wird. Die Zwillinge formulieren es nicht so – überhaupt ist die Sprache karg und faktenorientiert –, aber im Prinzip erziehen sie sich selbst zu Supersoldaten.
Am Ende trennen sich die Wege der Zwillinge. Einer bleibt im Haus der inzwischen verstorbenen Großmutter. Der andere wagt die Flucht über die Grenze. Dabei geht er im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Er klettert von der Bühne, betritt das Parkett. Hinter ihm senkt sich der eiserne Vorhang. Eine Anspielung auf den Hintergrund des Romans, denn Agota Kristóf verarbeitet ihre Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Flucht während der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands 1956. Die Frage bleibt: Was kann eine vielleicht freundlichere Gesellschaft mit einem Menschen anfangen, der so tief traumatisiert ist und das Fühlen verlernt hat? Und wie findet sich der entkommene Zwilling zurecht, wenn er plötzlich wieder empfinden darf und sollte.
Erschienen am 3.11.2025


















