Theater der Zeit

Theatergeschichte

„Ich entdecke die Wirklichkeit, während ich inszeniere“

Das Besondere von Benno Bessons Theaterarbeit in der DDR

von Thomas Wieck

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Akteure Berlin Theatergeschichte Volksbühne Berlin Deutsches Theater (Berlin)

Zoé Lebreton und Coline Serreau beim Gastspiel von „Der Kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht und Paul Desau auf der Bühne des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm in der Inszenierung von Benno Besson 2002
Zoé Lebreton und Coline Serreau beim Gastspiel von „Der Kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht und Paul Desau auf der Bühne des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm in der Inszenierung von Benno Besson 2002Foto: picture-alliance / dpa | DB Claudia Esch-Kenkel

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Jenseits aller aktuellen Modernitäten ist ein Theater ange­siedelt, das Spielern und Spielerinnen einen Freiraum öffnet, überlieferte Formen und Weisen der Kunst des Schauspielens an neuen wie ­alten Stücken zu erproben und die tradierten Spiel­weisen daraufhin auszuprobieren, ob sie geeignet sind, die jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse ästhetisch überzeugend zu durchleuchten. Wenige Schauspielregisseure des
20. Jahrhunderts haben ihre Ensembles angehalten, diesen Freiraum auszuschreiten. Aus diesen praktischen Versuchen, nicht aus theoretischen Erwägungen, erwuchsen neue Spielweisen, neue zeitgerechte Formen eingreifenden Theaters. Im deutschen Theater ist dies wohl nur Bertolt Brecht und Benno Besson gelungen. Daran ist zu erinnern. In vielem Brechts Widerpart, stimmte Besson mit seinem Regiementor doch grundsätzlich überein, dass „die Schauspielkunst zu den elementaren gesellschaftlichen Kräften“ gehöre, dass „sie auf einem unmittelbaren gesellschaft­lichen Vermögen, einer Lust der Menschen in Gesellschaft“ be­ruhe und dass „sie eine Sprache für sich ist, die nach keiner ­Begründung für ihren Gebrauch außer sich selbst suchen muss“ (Brecht). Für Besson waren Spielweisen geronnenes Thea­ter­wis­sen, tradierbare Verfahren, Vereinbarungen zwischen Zuschauern und Spielenden, in denen die Differenz zwischen individuell-menschlichem Vermögen und gesellschaftlich-menschlichen Zwängen auf jeweils andere Weise theatralisch vergegenständlicht wird. „Bei der Spielweise, die ich persönlich versucht habe am Deutschen Theater zu entwickeln, könnte man sagen, dass der Zuschauer sich in den Schauspieler einfühlt als in einen aus dem Privatisieren ausbrechenden Menschen. Der Schauspieler macht dem Zuschauer Mut und Lust, sich als Gesellschaftswesen zu fühlen und zu betätigen.“ Besson bestätigte 1998 nochmals ausdrücklich: „Marx sagte, eine Emanzipation wird stattgefunden haben, wenn die Menschen gelernt haben, ihre privaten, persönlichen Kräfte, also ihre Gedanken und Gefühle, als gesellschaftliche zu erkennen und zu organisieren. Das klingt ganz einfach. Ich habe am Theater nichts anderes gemacht.“

I

Benno Bessons Inszenierungen zeichneten sich durch ihre ästhetisch hoch elaborierte Vieldeutigkeit aus. Sie konnten kaum kritisch eingefangen und vermessen werden, da sie nicht in den vorgefertigten sozialistisch-realistischen Rahmen passten. Bei Besson blühten die Texte auf und verkümmerten weder zu zufälligen Anlässen schnöder Selbstdarstellung, noch wurden sie zu ­billiger Tagesaktualität heruntergewirtschaftet.

Bessons Ausgangspunkt scheint trivial, ist aber ziemlich ­raffiniert und voller schauspielerischer Verlockungen: „Le Cabotinage ist die Anbiederung des Schauspielers an das Publikum. Mit Cabotin bezeichnet man einen Schauspieler, der es versteht, sich ein gutes Verhältnis zum Publikum zu verschaffen. Meistens tut er es auf Kosten seiner Mitspieler. Man kann viel lernen von diesen Schmierenkomödianten, die immerfort mit dem Publikum liebäugeln, die immerfort hören, wie die Reaktion des Publikums ist, und die sich danach einrichten. Diese Mittel muss man gebrauchen. Wir behaupten dieses Verhältnis zum Zuschauer, wenn es uns passt. Das regeln wir, das heißt, es ist nicht die Willkür eines jeden einzelnen Schauspielers, wie oder wann er mit dem Publikum verkehren kann. Es gibt bestimmte Figuren, die verkehren gar nicht mit dem Publikum, es gibt andere, die das tun und tun sollen. Auf jeden Fall wird aber so das Verhältnis Bühne – Publikum behauptet. Ein Schauspieler, der auf der Bühne etwas vorführt, muss wissen, welche Gesinnung und welches Standing das Publikum hat, das er anspricht.“ Kampf und Einheit der ­Spielweisen, das ist die wahrlich dialektische Bewegungsform der ­Inszenierungen Bessons. Gestus und Spielweise der im Konflikt miteinander ringenden Figuren kollidieren miteinander im Kampf um die Gunst der Zuschauer. Das Spiel wird zum Kampf, der auf dem Theater zu verhandelnde gesellschaftliche Konflikt wird schauspielerisch ausgefochten, Spielweise gegen Spielweise, Gestus gegen Gestus; das gesamte schauspielmethodische Repertoire ist zu mobilisieren, um mit den „Waffen des Theaters“ die gesellschaftlichen Verhältnisse auf unmittelbar sinnliche Weise zu kritisieren. Das vereint Ensemble und Zuschauer im Widerstand gegen die standardisierten theatralischen Wirklichkeits­imitate, gegen die Lüge auf der Bühne. Die Verwandlung der Wirklichkeit ins Künstliche wird zum szenischen Ereignis, bewegt alle Elemente des Theaters, strengt alle Sinne des Zuschauers an und, so Besson, erheischt von den Spielern „dass sie ihren ganzen Körper engagieren, wenn sie etwas auszudrücken haben“.

II

Drei Inszenierungen in schneller Folge am Deutschen Theater in Berlin – „Der Frieden“ (1962), „Der Tartüff“ (1963) und „Der Drache“ (1965), dann der nach neun Vorstellungen schnell verbotene „Moritz Tassow“ (1965) an der Volksbühne sowie „Ödipus Tyrann“ (1967) in der Fassung von Heiner Müller, mit dem Besson mehrmals in den folgenden Jahren zusammenarbeitete, bis er ihn 1976 an die Volksbühne holte – hatten die Wirkkraft des theatermethodischen Ansatzes bestätigt und bildeten die Basis für Bessons weitgreifendes Konzept eines sozialistischen Theaters an der Volksbühne zwischen 1969 und 1977. Nicht im schnell greifbaren Stofflichen, sondern im Spiel lag die bewirkende Kraft eines ­solchen Theaters, seines Theaters. „Wir müssen uns verlassen auf die Wirkung als Theater – ,Lösungen’, die wir haben, können wir nur auf unserem Gebiet, nämlich als Anregungen der Fan­tasie anbieten, um [im Zuschauer] Fantasie [zum Weiterdurchdenken dieser Prozesse] freizusetzen.“

Benno Besson, Manfred Karge, Matthias Langhoff, Fritz Marquardt und Karl-Heinz Müller krempelten die Volksbühne spielplantechnisch, ensemblepolitisch und baulich so um, dass sie schließlich versuchen konnten – und das war einmalig in der Geschichte des Theaters in der DDR –, die Theaterträume des antibürgerlich-avantgardistischen und des proletarisch-revolutionären Theaters in einem großen Anlauf praktisch zu versöhnen. In ihrer Theaterarbeit sollte eine höhere Form der gesellschaftlichen Praxis aufscheinen. Der anzustrebende freie Austausch aller Fähigkeiten der gesellschaftlichen Produzenten, ein permanentes Herausarbeiten ihrer sich erweiternden Strebungen und wachsenden Bedürfnisse, eine lustbetonte, genussförderliche Praxis individueller Selbstverantwortung und wahrgenommener Solidarität sollte sich im gemeinschaftlich organisierten Spiel, im Vor- und Mitspiel, im „freien Spiel der menschlichen Wesenskräfte“ (Marx), in der Spontaneität der Improvisation ankündigen und theatralisch Gestalt gewinnen. Die Schauspieler mussten dazu befähigt werden, dies vorbildlich vorzuzeigen. Und sie taten es. Sie gestalteten ihr Theater zu einem Labor der Spielweisen um. In diesem theaterästhetisch begrenzten Spielraum wurde durch ihre Arbeit eindrücklich die Einfalt des sozialistischen Realismus ad absurdum geführt. Das Theater wurde wieder zu einem künstle­rischen Ort der theatralischen Subjekte, wurde wieder zu einer Sache des Ästhetischen. Die jeweils aus dem Arsenal der Theatergeschichte gewählten Spielweisen förderten bei Schauspielern und Zuschauern ein wachsendes künstlerisches Gestaltungs- und ästhetisches Wahrnehmungsvermögen. Eine wahrhaft entwickelte sozialistische Kunstöffentlichkeit wurde hier erstmals erschlossen: „Das Theater vermittelt die Kunst zu sehen, was wirklich passiert, während etwas passiert.“ (Besson) Praktisch ging Besson enorm handwerklich auf seine Schauspieler zu. Dieter Montag: „Den wenigsten Leuten ist bewusst geworden, dass Benno versucht – manchmal mit harten Mitteln –, dass die Leute selbständig arbeiten für die Sache und sich selbst befreien.“ Eberhard Esche erfuhr es: „Besson gab mir ein Stück zum Lesen. Das Stück war von Peter Hacks und hieß ‚Der Frieden‘. Die Rolle hieß Tumult, und die Rolle war sehr klein. Also versuchte ich, sie groß zu ­machen. Ich drückte auf die Stimme, das hatte ich mir am ­Meininger Theater angewöhnt, und schlug darüber hinaus einen Vier-Meter-Sprung in die Proszeniumsloge vor. Besson nahm den Sprung, machte mich auf meine schlechte Körperhaltung ­aufmerksam und bat mich, meine Stimme etwas höher anzu­siedeln, dort, wo sie ihren natürlichen Sitz habe. So begann unser Arbeitsverhältnis.“ Und Heiner Müller notierte, nicht neidlos: „Seine Proben sind Reisen und Abenteuer in dem unbekannten Territorium der Texte, die er zunächst als weiße Flecken sieht, auf die er seine plötzlichen Entwürfe projiziert. Ich habe oft bedauert, dass die Proben nicht öffentlich sind und als Vorstellungen verkauft werden, die Premiere als die letzte. Er unterhält sogar Schauspieler, die bekanntlich schwer zu unterhalten sind.“

III

„Es geht es uns darum, dass wir nicht große Modellinszenierungen machen, sondern dass wir die Verhältnisse zwischen uns innerhalb des Theaters und zwischen den Leuten, dem Publikum, immer vielfältiger und lebendiger gestalten.“ (Besson) Die Verhältnisse menschlicher zu gestalten, und sei es auch nur im Produktions- und Gesellungsraum Theater, war für ihn die vornehmste Aufgabe, der sich Kunst stellen kann.Weniger wollte Besson nicht, wohl wissend: „Auf der Bühne werden wir nie was anderes finden als etwas Theatralisches, und das löst keine ­Lebensprobleme.“ Eingeladen wurde ein Publikum, das mit dem Theater und in diesem Theater über Gott und die Welt und über seine Sorgen und Nöte kommunizieren, es als Lebensmittel nutzen wollte. „Wir möchten gern ein geistig-kulturelles Zentrum im Herzen Berlins aus der Volksbühne machen. Ein Ideal wäre für mich ein Theater, wo man den ganzen Tag, wenn möglich die ­ganze Nacht, ein- und ausgehen kann, wo immer etwas in den verschiedensten Räumen passiert, wo man alle Räumlichkeiten für die Bevölkerung nutzbar macht.“

Das gelang beispielhaft mit den zwei großen en suite gespielten Theaterfesten „Spektakel 1 – En-Suite-Spiel“ (1973; fünf Stücke an einem Abend) und „Spektakel 2 – Zeitstücke“ (1974; zwölf Auf­führungen an einem Abend bis Mitternacht nacheinander und parallel gespielt). Das Theater war mit einem Schlag für zwei ­Wochen ein moderner Marktplatz, der wahrlich aus allen Nähten platzte. Das Publikum nahm für einige Stunden mit allen Sinnen Besitz vom Theater. Es konnte sich seinen Abend im Theater selbst zusammenstellen, genügend Stücke standen zur Auswahl. Und das Theater hatte reichlich aufgetischt: Von Bier und ­Bockwurst bis zu Sekt und Häppchen, dazu Tanzmusik. Gäste und Gastgeber trafen sich in geselligem Verkehr, eine spontan sich organisierende Insel der Öffentlichkeit entstand, das Modell für Größeres tauchte aus dem üblichen theatralischen Einerlei verheißungsvoll auf.

IV

„Wenn ich ein Theater leitete, ging es darum, dass möglichst verschiedene Leute gerne darin arbeiten und man die Fähigkeit entwickelt, verschiedene Theatergelüste und -weisen zu behaupten. So war es an der Volksbühne.“ (Besson) Besson vermochte es, die vorgeschriebene, starr zentralistische Leitungsstruktur des deutschen Stadttheaters im Verborgenen elastischer zu handhaben und sie den Produktionsprozessen anzupassen. „Ich war auch nie ein guter Theaterleiter. Ich habe nur gerne Leute um mich herum. Ich war eher ein guter Leiter, weil ich viel durchließ und weil ich einen sehr guten Verwaltungsleiter hatte, also geschützt war.“ Ein Problem kristallisierte sich dabei jedoch heraus. Hermann Beyer monierte 1977: „Wir sind keine Truppe, die sich außerhalb einer Institution auf freiwilliger Grundlage versammelt hat. Wir sind in einem Institut beschäftigt, wo mittlerweile viele Leute hinwollen, und keiner möchte, vorläufig jedenfalls, von hier weg. Die meisten halten es doch für das produktivste Theater, das gemacht wird. Das Dilemma ist: Es stimmt ja nicht, dass nichts kollektiv passiert am Theater. Wir machen Inszenierungen, gewisse kollektive Unternehmungen, haben versucht, bestimmte Probleme kollektiv zu klären, in Form von Dialogen miteinander reden, auf der Bühne passiert‘s sowieso, ein notgedrungen wie auch verkümmert kollektiver Vorgang, und da wird natürlich verwischt, dass anderes möglich wäre.“ Besson wusste darum und versuchte, das Problem zu lösen. Die künstlerische Arbeit weiter zu demokratisieren war das große neue ensemblepolitische Ziel 1976/77. Sich zwanglos bildende, jeweils bestimmte ästhetische Interessen verfolgende, locker verbundene Produktionsgruppen sollten den abstrakten, gleichmacherischen Ensemblezwang auflösen, und die Synergieeffekte der freiwillig zusammenwirkenden und konkurrierenden selbständigen Arbeitsgruppen sollten mit und durch ihre Inszenierungen die Volksbühne als Ganzes zusammenhalten und vorwärts treiben. Dieser Plan, die faktische Selbstauflösung des intendantenzentrierten Repertoire-Ensembletheaters, scheiterte an der staatssozialistischen Kulturbürokratie und ihren theaterfremden Vorschriften. Aber auch das von dieser Bürokratie dankend übernommene System des deutschen Stadttheaters hätte die Selbstentmachtung des alleinherrschenden Intendanten nicht ertragen. Benno Besson entwich den deutschen Theaterverhältnissen und verließ 1978 die DDR. //

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