Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Bielefeld: Mikrowellen-Pop(p)-Porn

„Sex Play“ von Patty Kim Hamilton (DE) – Inszenierung Rebekka Nilsson, Bühne und Kostüme Katja Ebbel, Sound Matthías Sigurðsson

von Lina Wölfel

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Theater Bielefeld

Nicole Lippold, Amy Lombardi, Faris Yuzbaşıoğlu in „Sex Play“, in der Regie von Rebekka Nilsson Foto: Philipp Ottendörfer
Nicole Lippold, Amy Lombardi, Faris Yuzbaşıoğlu in „Sex Play“, in der Regie von Rebekka Nilsson Foto: Philipp Ottendörfer

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Sex ist überall. Die junge Generation ist damit aufgewachsen. Mit Pornos, die frei auf Streamingplattformen verfügbar sind. Mit Fernsehwerbungen à la „Es rappelt im Karton“, Amorelie-Adventskalendern und Dating-Apps von Tinder über Grinder bis Bumble – an den speziellen (sexuellen) Bedürfnissen der Benutzer:innen ausgerichtet. Überall kann darüber geredet werden. Konsens-Debatten finden in den Medien statt, #MeToo prägte die Pubertät dieser Generation. Auf TikTok werden Sexpositionen, NonBinary-Awakenings und Sexual-Check-Ins als Date-Night-Idea mit der:m Partner:in geteilt. Noch nie – so scheint es – konnte so offen und vielfältig über Sex geredet werden. Aber wird es das? Über Sex reden ist nicht mehr revolutionär, oder? Die Antwort des Abends: Über Sex zu reden, ist nicht mehr zwingend revolutionär. Tiefgründig, ehrlich, verletzlich über Sex zu reden schon. Denn es bricht mit gesellschaftlichen, patriarchalen und cis-heteronormativ-binären Konstrukten. Und fällt nicht immer leicht.

Was nämlich, wenn die eigenen Vorstellungen und Wünsche, Sehnsüchte und Fantasien nicht zum aktuellen Konsens passen? Patty Kim Hamilton hangelt sich in ihrem neuen Stück „Sex Play“ anhand einer fragmentarischen Aneinanderreihung multiperspektivischer Figuren und ihrer Geschichten an den verschiedenen Nuancen der Sexualität entlang. Die Erkenntnisse und Gespräche darin sind nicht immer „der neuste Scheiß“ greifen vieles auf, worüber gerade in den Sozialen Medien sowieso schon sehr offen gesprochen wird. Mittels ihrer sensiblen und unglaublich poetischen Sprache gelingt es Hamilton jedoch, spannende und tiefgründige Subtexte zu erzeugen, die ehrlich berühren und manchmal auch aufwühlen. Gerade weil man manchmal nicht sofort weiß, wie man sich dazu verhalten soll. Und dadurch auf die eigenen verinnerlichten Vorstellungen von Sex zurückgeworfen wird.

Zum Beispiel als Stefan Imholz und Faris Yüzbaşıoğlu zwei Männer am Rande eines Sportplatzes geben, die versuchen aus erlernten patriarchalen Gesprächsmustern über Sex heruazubrechen, dafür aber eigentlich zu verklemmt sind. Schließlich schaffen sie es – dank vieler Stresskippen – und sprechen darüber, wie viel Lust sie haben. Darüber, warum und wann sie Kondome störend finden. Und darüber, wann sie gegebenenfalls schonmal nicht ausschließlich auf Konsens basierenden Sex hatten. Oder als Amy Lombardi einen Monolog über Machtmissbrauch und Vergewaltigung hält und dazu auffordert, die zugeschriebenen Opfer- und Täter:innenrollen zu durchbrechen. Den Betroffenen ihr individuelles Narrativ zu überlassen. Da muss man erstmal schlucken. Es ist eben nicht so einfach.

Und weil es nicht so einfach ist und diese Themen trotz ihrer Allgegenwärtigkeit eben sehr persönlich, individuell ja geradezu verletzlich sind, bedarf es einer gekonnten Setzung. Und Rebekka Nilsson kann. Da kommen nämlich die fünf Darsteller:innen nacheinander in den Bühnenraum, auf dem wir als Zuschauer:innen U-Förmig sitzen. Allen voran Brit Dehler und fragen uns – ganz ernsthaft – „Willst du mich küssen?“. Einige Zuschauer:innen mag das zunächst irritieren – zumindest ist hier und da Kichern zu hören. Weil diese Frage aber nicht einfach in den anonymen Raum, sondern einzelnen Besucher:innen persönlich gestellt wird, entstehen in diesem fremden Bühnenraum kleine intime Räume zwischen den Darsteller:innen und dem Publikum. Räume des zärtlichen, verlegenen oder intensiven Blickkontakts. Und nicht nur einmal ist ein „Ja“ zu hören.

Gleich darauf folgt der nächste, man kann nur sagen geniale, Schachzug des Abends. Nilsson setzt nämlich ein ästhetisches Mittel ein, dass im Theater eher selten zu finden ist: Geruch. Während Jane und John, deren Beziehungsarbeit das einzige auch eher fragmentarische Kontinuum der Erzählung ist, sich von ihren Ängsten erzählen, macht Yüzbaşıoğlu in einer Mikrowelle Popcorn. Der karamellig-süße Geruch verbreitet sich schnell im gesamten Raum. Plötzlich ist es überhaupt nicht mehr komisch einander so nahe zu sein. Der Raum verändert sich. Neben mir hoffen zwei, vielleicht bis Vorstellungsbeginn einander Unbekannte, etwas abzubekommen, andere haben Angst, dass das Popcorn verbrennen könnte. Es passiert, was im Theater sonst oft nur aus Verlegenheit oder Ärgernis passiert: Unbekannte unterhalten sich.

Die episodenhaften zerstückelten Textelemente Hamiltons stattet Nilsson dann folgerichtig poppig mit Sujets aus amerikanischen Filmen und Serien aus. Da wird das Popcorn aus einer großen Schüssel gemampft, während zwei andere von ihren schlimmsten Tinder-Dates erzählen, ein Beziehungsgespräch findet als Teeküchensequenz um eine Filterkaffeemaschine statt und immer wieder spielen alle fünf gemeinsam die besten Hits über Sex: Amy L. am Keyboard, Nicole L. mit Gesang und Ukulele, Brit D. am Horn, Stefan I. auf dem E-Cello und Faris Y. mit den Drums. Das passt perfekt zum Setting. Mit ihren pinken Bubi-Perrücken, den orange-rosa-pink-farbenen Workwear-Overalls und den vor Strasssteinen glitzernden Gesichtern wirken sie im schlichten Bühnenbild mit Neon-Schild und schwarzen gerafften Vorhängen wie eine Pop-Band in einem Varieté-Club.

All das wird aber nie so albern, dass die Ernsthaftigkeit des Themas verloren geht, bietet vielmehr eine Atmosphäre, die tiefere Gedanken ermöglicht. Die Scham überwindet. Hamilton thematisiert in ihrem Stück nämlich auch die Geschichte von Jan Hempel, der vergangenes Jahr den deutschen Schwimm-Verband wegen sexuellen Übergriffen seines Trainers verklagt hat. „Ich will endlich, dass es fair wird […] Aber wer hat Schuld an einem kaputten System?“ fragt Brit Dehler. Da ist er wieder, der Gedanke, dass es zwar Täter:innen und Betroffene gibt, die Schuldfrage aber nicht per Blaupause von einer auf die nächste Tat übertragbar ist. Viel wichtiger ist es, zuzuhören. Und Abende wie den in Bielefeld zu sehen. Damit in der Öffentlichkeit und im Privaten ernsthafter und rücksichtsvoller über Sex gesprochen wird. „Vielleicht gibt es Dinge, vor denen wir immer Angst haben werden“ sagt Dehler – „Und vielleicht ist das ok“ entgegnet ihr Imholz. „Hältst du mich?“ fragen alle am Ende ins Publikum.

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