Thema
„Deutsch sein?!“
Positionen zu einem komplizierten Thema
„Deutsch sein?!“, mit dieser Frage haben wir Menschen konfrontiert, für die es aus verschiedenen biographischen Hintergründen nicht so einfach zu beantworten ist, was ‚deutsch sein‘ für sie bedeutet. Sarah Chaudon, ursprünglich aus Frankreich, studiert jetzt in Stuttgart Figurentheater, die Figurenspieler Kotti Yun, mit koreanisch-deutschen Wurzeln, und Antonio Cerezo, mit mexikanischem Hintergrund, arbeiten schon seit Jahren überwiegend in der deutschen Figurentheater-Szene, dennoch haben sie sich alle den Blick von außen – aus dem ‚Nachbarhaus‘ (Sarah Chaudon) – bewahrt und geben uns vielfältige Einblicke in ihre Vorstellung vom Eigenen und vom Fremden. Silvia Brendenal, ehemalige künstlerische Leiterin der Schaubude Berlin und in den 90er Jahren Direktorin des Forums für Figurentheater in Bochum, schaut zurück auf ihr Leben und ihr Arbeiten zwischen Ost- und Westdeutschland.
von Kotti Yun, Antonio Cerezo, Silvia Brendenal und Sarah Chaudon
Erschienen in: double 37: „Deutsch sein?!“ – Eine Frage zur Zeit (04/2018)
Assoziationen: Debatte Nordrhein-Westfalen Berlin Mecklenburg-Vorpommern Baden-Württemberg Puppen-, Figuren- & Objekttheater Schaubude Berlin
Silvia Brendenal: Zwischen Ost und West im Ich
Unterricht in der Dorfschule: Ich bin in der 1. Klasse, verlasse schnell den für vier Klassen einzigen Klassenraum, denn ich weiß, mein Hund wartet auf mich vor der Schule. Doch auch diesmal schaffen wir es nicht, uns ungeschoren davon zu stehlen. Schon treibt uns die Rotte der deutschen Bauernsöhne durchs Dorf. Mich, die „Polackengöre“, und ihren „Köter“. Meine Kindheit in diesem Dorf fand im Verborgenen statt, in der ständigen Angst davor, entdeckt und gejagt zu werden.
Heute lebe ich in Mecklenburg-Vorpommern. Bin Patin einer geflohenen syrischen Familie. Und wieder bin ich ständig auf der Hut, denn ich kenne die Blicke und Gesten, die uns im Supermarkt, auf der Straße, selbst in meinem 30-Seelen-Dorf begegnen.
Dazwischen liegen Jahre der menschlichen und beruflichen Begegnungen mit dem, was gemeinhin unter Deutsch-Sein verstanden wird und dem, was ich für mich als Tugenden und Nicht-Tugenden des Deutsch-Seins entdeckte.
Sozialisiert in der DDR, ausgebildet durch das Bildungswesen dieses Landes, geprägt vom propagierten Kollektivgeist, hatte ich im Puppentheater der DDR meine künstlerische Heimat gefunden. Erlebte, wie sich eine bis dato kulturpolitisch nicht anerkannte Theaterform künstlerisch und gesellschaftlich etablierte, und meine individuelle Entwicklung wie die vieler KollegInnen ging einher mit besagter Etablierung dieser Kunstform des Theaters. Auf der Basis ökonomischer Sicherheit leistete ich mir den Luxus schöpferischen Wachstums und erprobte Kreativität im Umgang mit ideologischen Kneifzangen. Letztlich eine pubertierende junge DDR-Erwachsene, ausgestattet mit all jenen Tugenden, die Deutsch-Sein in diesem kleinen deutschen Land bedeutete: strebsam, ehrgeizig, fleißig, wachsam, aufmüpfig in tolerierbarem Rahmen.
Arbeitend in einem der alten Bundesländer, unmittelbar nach dem Mauerfall, erlebte ich nicht nur, welch’ unterschiedliche ‚deutsche‘ Menschen im getrennten Deutschland herangewachsen waren, sondern wurde konfrontiert mit der selbstverständlichen Freiheit des Geistes, des Wortes – des gesprochenen, geschriebenen, dargestellten. Wurde überrascht von der künstlerischen Vielfalt des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters, letztlich des Theaters der Dinge, die auf diesem freiheitlichen Kunstverständnis basierte. Dem ebenso beschützenden wie normativen WIR der DDR-Theaterszene stand das ICH selbst verantworteter Kunstproduktion in der BRD gegenüber. Der Kampf um die künstlerische und gesellschaftliche Akzeptanz des Figurentheaters wurde hier von Künstlerpersönlichkeiten geführt, und nicht per Direktive durchgesetzt. Ein mühsamer Kampf, den ich per Amt mitzukämpfen hatte (vor allem wollte!) und in dem mir sehr bald die Flügel gestutzt wurden durch jederzeit gestellte Fallen deutscher Verwaltungsstruktur und -bürokratie. Ich verstand: Dem Figurentheater wurden zwar keinerlei ideologische Fesseln angelegt, aber die Fesseln ökonomischer Abhängigkeit schnitten hart ins Fleisch der Unabhängigkeit und der künstlerischen Freiheit. Folglich auch in mein Fleisch.
Nach sechs Jahren zurückgekehrt nach Berlin, besuchte ich ein ostdeutsches Puppentheaterfestival. Ein betrunkener, von mir sehr geschätzter Kollege torkelte auf mich zu und sagte: „Hat Dir schon jemand gesagt, dass Du eine total blöde Westkuh geworden bist!“
Was war geschehen? Im Westen nicht angekommen (da Ostkuh), war ich inzwischen offenbar ausgeschert aus dem Verbund der DDR-Deutschen, war tatsächlich nur noch ICH. War zurückgeworfen auf mein Deutsch-Sein, das nie ein solches war.
Kotti Yun: es gibt keine geister, die toten sind weg
Ich bin in Deutschland geboren und als ich zehn war, bin ich mit meinen Eltern nach Südkorea gezogen. In Seoul war ich unglücklich, weil ich mich „so deutsch“ fühlte und unpassend zu dem Ort, an dem ich war. Als ich zum Studium für Puppenspielkunst nach Berlin zog, war ich vierundzwanzig und ohne es zu bemerken, schon ganz schön koreanisch geworden.
Wenn man also so südkoreanisch sozialisiert nach Berlin kommt, ist alles sehr anders und sehr deutsch. Zunächst einmal fragt niemand so richtig nach dem Alter des Gegenübers, in Berlin siezt man fast niemanden, den man privat kennenlernt, es gibt keine Bezeichnung für diejenigen, die ein paar Jahre älter sind und das Essen wird nicht zwingend geteilt. Wenn man zu Freunden eingeladen wird, die für einen kochen, gibt man ihnen für den Einkauf ein bisschen Geld dazu oder bringt etwas mit, was man selbst gerne essen oder trinken möchte. Das Nichtvorhandensein einer Hierarchie oder das Streben nach flacher Hierarchie bringt die Effizienz des Arbeitens ins Stocken. Die Deutschen diskutieren gerne beziehungsweise zeigen sie gerne, dass sie mitdenken. Wer keine Meinung äußert, wird für meinungslos gehalten oder desinteressiert und könnte im Nachhinein benachteiligt oder vergessen werden, denn derjenige hat seine Position nicht verteidigt.
Außerdem sind die Deutschen überhaupt nicht abergläubisch. Sie haben Zwänge oder manchmal Rituale, die man auch als Sitten bezeichnen könnte, die ausgeführt werden, weil es sich so gehört, mit der Selbstreflexion, dass es eigentlich nicht lebensnotwendig ist. Man kann alles logisch ergründen. Es gibt keine Geister, die Toten sind weg. Es gibt Energien, aber darüber zu sprechen ist ohne Ironie ein wenig unangenehm, denn der Deutsche möchte als Denker den kühlen Kopf bewahren und nicht naiv und kindlich anmuten.
Im Ganzen ist ‚deutsch sein‘ eher kompliziert, es gibt keine klar erkennbaren Hierarchien, an die man sich halten kann, keine Benimmregeln, die in jeder Situation angewandt werden können. Nein, man muss herausfinden, wer man ist und was man will. Man muss lernen, dazu zu stehen, wer man ist und was man will. Es ist nicht möglich, sich durch das soziale Leben zu schleichen, in der Masse unterzugehen, denn das Individuum ist gefragt.
Diese Lebensweisen habe ich in Deutschland kennengelernt, und daraus gelernt. Insbesondere das bewusste Handeln, das mir nicht nur im privaten Leben hilft, selbstbestimmt meinen Weg zu gehen. Auch bei der Arbeit stelle ich mir unentwegt die Frage, was meine Aufgabe in dem jeweiligen Projekt ist, wie ich meine Position vertreten möchte, wofür ich stehe und ob ich der Aussage der jeweiligen Inszenierung zustimme und wenn nicht, was ich an der Lage ändern kann. Trotz der Schwierigkeit, dass ich ständig ‚mitdenken muss‘ und nicht, ohne darüber nachzudenken, lediglich meine Funktion ‚ausführen‘ kann, freue ich mich sehr über diese Freiheit, die mir in Deutschland in fast jedem Rahmen ermöglicht wird.
Antonio Cerezo: Die große alte Lüge „Identität“
Für mich stellt sich diese Frage so: Wie kann man als Mexikaner deutsch sein? Ich könnte in die Folklore oder in den Nationalismus schauen, aber diese Klischees interessieren mich nicht. Die Frage finde ich wichtig als Reflexion, wo die Grenzen sind, die unsere ‚Nationalität‘ oder ‚Volkszugehörigkeit‘ ausmachen. Oder, was haben wir gelernt, wie wir uns verhalten sollen – egal zu welcher Nationalität wir gehören. Diese Idee, was uns als ‚deutsch oder etwas anders‘ bestimmt, halte ich für eine große, alte Lüge. Eine Lüge, die wir alle verinnerlicht haben und die uns in unserer Komfortzone umarmt. Klar, es gibt gute und schlechte Bilder von dem, was ‚deutsch‘ oder ‚US-amerikanisch‘, ‚mexikanisch‘ usw. ist, aber ist es das, was wir von uns sehen wollen? Das glaube ich nicht. Die Menschheit hat zur Zeit eine Identitäts-Krise. Wir wollen für unsere Werte und Traditionen kämpfen, und es ist wichtig, solche zu haben, aber es sieht so aus, dass wir aus Angst vor den Anderen kämpfen, die fremde ethische Werte und Kulturen verkörpern und leben. Was ich meine, ist: Als Mexikaner kann ich korrupt, ein Drogen-Dealer oder freundlich sein. Mag ich das? Nein. Bin ich das? Nein, also, freundlich schon... Aber es gibt diese Realität, dass man dort durchaus korrupt sein kann, und es stimmt, dass man mit Geld alles kriegen und besorgen kann. Und das ist eine Lüge, die wir alle gelernt haben. Für Deutsche kann man genauso gute und nicht so gute Beispiele nennen. In allen Kulturen und Nationen gibt es ein großes Spektrum unterschiedlicher Menschen, moralisch gesprochen: mit guten oder weniger guten Verhaltensweisen und den unterschiedlichsten Ansichten. Aber was genau macht unsere Identität dabei aus? Ist es unsere Geschichte, unsere Religion, das Essen oder unser Geschlecht? Und wo sind die individuellen Grenzen in Bezug auf Identität, Werte und die Vielfalt der Optionen?
Im Theater bedeutet ‚deutsch sein‘, für mich, über die traditionellen Grenzen zu gehen. Hier wird Objekttheater und Puppentheater nicht nur für Kinder produziert. In Mexiko-Stadt gibt es nur ein einziges Puppentheater – und das programmiert ausschließlich Stücke für Kinder. Dort, in Mexiko, haben wir immer noch die Idee: Puppen = Kinder. Als Theatermacher heißt ‚deutsch sein‘, auch einen Kompromiss mit einem Publikum einzugehen, das ins Theater geht, um gute Produktionen zu sehen – in allen Arten und Formen. Das ist ein sehr starker Unterschied zwischen Mexiko-Stadt und Deutschland. Es ist nicht so, dass es in Mexiko kein gutes Theater gibt, aber es ist traurig, in so einer riesigen Stadt so viele Theater mit zu wenig Publikum zu sehen. Ein Risiko einzugehen, ist ein wichtiger Faktor im deutschen Theater. Deswegen habe ich hier in Deutschland die besten sowie die schlechtesten Theaterstücke meines Lebens gesehen. Ja, ich mag Deutschland und die Deutschen.
Sarah Chaudon: Im Nachbarhaus
Ich war 22 Jahre alt, als ich deutsch geworden bin. Ich habe meine neue Staatsangehörigkeit per Post bekommen. Davor war ich einfach französisch. Jetzt habe ich zwei Pässe und bin aus zwei Ländern. Aber mein Stammbaum und mein Blut sprechen sich ab, lachen, korrigieren mich und rechnen mir vor, dass ich eigentlich aus vier verschiedenen Ländern komme: Oma aus den Niederlanden, Opa aus Deutschland, Oma aus der Schweiz, Opa aus Frankreich. Meine Blutwurzeln verwurzeln sich in vier Ländern, aber die Wurzeln der Wurzeln, die Wurzelspitzen, wissen bestimmt, dass ich eigentlich aus noch vielen anderen Ländern komme. Auf der Papieroberfläche bleibe ich erstmal französisch und deutsch, aber trotzdem auf der Wippe zwischen Kulturen.
Ich bin in Deutschland seit fast vier Jahren, rede fast flüssig Deutsch und bin fast Figurenspielerin! Also, fühle ich mich deutsch? Mmmhh… fast! In Deutschland fühle ich mich noch wie im Nachbarshaus, als ich klein war: Ein Haus, das ich sehr gut kenne, in dem ich nicht mehr fragen muss, wo die Toiletten sind und ob ich etwas trinken kann; ein Haus, welches ganz nah an meinem ist, in dem ich meine Eltern höre, wenn ich zum Essen kommen soll, und zu welchem ich unseren Ball holen renne, wenn er über den Zaun geflogen ist. Aber auch ein Haus, in dem es anders riecht und in dem man anders spricht.
Ich wohne jetzt seit drei Jahren im Nachbarshaus. Im sehr gut aufgeräumten Zimmer Baden-Württemberg. Ob ich mich jetzt hier Zuhause fühle? Wenn ja, würde es dann bedeuten, dass mein französisches Elternhaus mir mit der Zeit vorkommt, als sei es das deutsche Nachbarshaus? Ein Fast-Zuhause, indem es anders riecht und indem man anders spricht?
Ich denke eher, dass mein Zuhause sich erweitert und sich auch ein bisschen verwässert hat. Ich habe nicht mehr eine einzige Heimat, sondern verschiedene Orte, an denen ich mich beheimatet fühle. Was braucht man, um sich zuhause zu fühlen? Ich möchte mich selbständig, frei und wohl fühlen, wie in meiner eigenen Küche, in der ich niemanden brauche, der mir erklärt, wo der Schneebesen ist.
Da kommt die deutsche Sprache ins Spiel: Sie ist ein wichtiger Schlüssel für die ‚selbständig, frei und wohlfühl‘-Tür. Wir schauen uns schon seit langem in die Augen und ich will sie endlich beherrschen. Aber sie verhext mich immer wieder mit ihren zwei Gesichtern. Mit einem süßen Lächeln lädt sie mich ein, mit ihr zu spielen, neue verwunderliche Wörter zu improvisieren, macht mich mutig genug, um halb-richtige Wörter zu probieren. Da fühle ich mich wohl mit ihr und bin auch sehr froh, ‚nicht wirklich‘ deutsch zu sein, um dieses Spiel weiter spielen zu dürfen.
Und auf der anderen Seite schlägt sie mich mit ihrem eiskalten Hammer mitten ins Gesicht, wenn der Dativ vergessen wurde, und lacht mich aus, wenn ich jemanden brauche, um diesen Text zu korrigieren.
Als Figurenspielerin merke ich, dass die deutsche Sprache mein Material ist und dass ich inzwischen genug Mutgepäck eingesammelt habe, dass ich mit ihr spielerisch in einen Dialog kommen und sie mir auf die Bühne holen kann. Ja, vielleicht sollte ich die Sprache sogar in meine Küche einladen, ihr zeigen, wo mein Schneebesen steckt und mit ihr auf unser neues Haus anstoßen. Mit ihr als Mitbewohnerin fühle ich mich jedenfalls zuhause.