Theater der Zeit

Protagonisten

Die Zehn Gebote radikaler Theaterkunst

Im Gedenken an den Choreografen, Tänzer und Regisseur Johann Kresnik

von Klaus Pierwoß

Erschienen in: Theater der Zeit: Miser Felix Austria – Martin Kušej über seinen Start am Burgtheater (09/2019)

Assoziationen: Akteure Johann Kresnik Theater Bremen

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An einem milden Sommerabend vor dem Bremer Theatro entstiegen einem Taxi zwei Männer, die sich herzlich umarmten: Zu meiner Verblüffung waren es die beiden Choreografen ­Johann Kresnik und Helmut Baumann, von denen ich nicht wusste, dass sie seit den fünfziger Jahren miteinander befreundet waren, obwohl sie in ihrer beruflichen Ausprägung nicht gegensätzlicher hätten sein können.

Der immer agile Choreograf, Tänzer und Regisseur Johann Kresnik ist am 27. Juli plötzlich im Alter von 79 Jahren in Klagenfurt gestorben. Kresnik war unumstritten der Vorreiter des modernen Tanztheaters. Seine Karriere begann er 1968 als Ballettmeister in Bremen während der Intendanz von Kurt Hübner. Seine etwa einhundert Tanz- und Theaterwerke sorgten regelmäßig für Skan­dale, da er oft konträr zur herkömmlichen Ballettästhetik arbeitete und seine stets politischen und gesellschaftskritischen Botschaften mit großem Nachdruck auf die Bühne brachte. Die österrei­chische Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, die ihm im Juli noch das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien überreichen durfte, nannte Kresnik einen Künstler mit „Wut im Bauch“. Er wurde bis an sein Lebensende immer als „Berserker“ bezeichnet, aufgrund seiner rabiaten Bühnenästhetik.

Natürlich war Kresnik in seinen ästhetischen Mitteln erheblich brutaler als Helmut Baumann, er scheute keine ­radikalen ästhetischen Mittel, um seine Absichten deutlich werden zu lassen. Er ließ es auf der Bühne nicht an Deutlichkeit fehlen. Ihm kam es darauf an, von Aufführung zu Au­f­führung neue ästhetische Mittel zu erfinden.

Kresnik war der radikalste unter den Choreografen und sorgte auch an anderen Häusern für Aufruhr. Nach seiner Ballettmeistertätigkeit in Bremen wechselte er zunächst an das Theater Heidelberg (1980 bis 1989), später leitete er die Tanzsparten an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf (1993 bis 2002) und am Theater Bonn (2002 bis 2008).

Während meiner Bremer Intendanz (1994 bis 2007) in­szenierte Kresnik „Fidelio“, „Intolleranza“, „Die letzten Tage der Menschheit“, „Vogeler“, „Die Zehn Gebote“ und „Amerika“. Er wollte seine Arbeiten nicht mehr an konventionellen Spielorten aufführen. Sein Resümee mir gegenüber: „Du bist der ein­zige Intendant, der mir einen Bunker, eine Kirche und einen Güterbahnhof als Spielorte zur Verfügung gestellt hat.“ ­Diese ­außergewöhnlichen Spielorte hatten eine ungeheure Zuschauer­sogkraft, wobei der Rausschmiss der „Zehn Gebote“ aus dem Dom und der Umzug in die Friedenskirche spektakuläre Nebenwirkungen hatten.

„Die letzten Tage der Menschheit“ (1999) waren sicher die größte Theaterkraftanstrengung, die unsere Bühne vorzuweisen hatte. Die Zuschauer wurden per Schiff von Bremen-City nach Bremen-Farge geschippert. Als ich während der Vorbereitungen den Ruinenteil des Bunkers besichtigte, wusste ich: Das ist der richtige Spielort. Einen Tag später kam Kresnik, der ebenfalls s­ofort zustimmte. Der Bunker, zu einem Viertel saniert und als Depot benutzt, zu drei Vierteln Ruinenteil, unterstand der Ver­waltung der Bundeswehr. Er war lange Zeit ein weißer Fleck, nicht nur auf den Stadtplänen, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein Bremens, weil er mit den unangenehmsten Erinnerungen und den dunkelsten Kapiteln des Zweiten Weltkrieges verbunden war.

Mit tatkräftiger Unterstützung des SPD-Bundestags­abgeordneten Volker Kröning stellten wir bei Verteidigungsminister Volker Rühe einen Antrag auf Spielgenehmigung für den ­außergewöhnlichen Spielort. Bei diesem Antrag hatte ich völlig vergessen, dass ich eine Unterschriftenliste gegen ein öffentliches Gelöbnis der Bundeswehr in Bremen angeführt hatte. Genau zu dem Zeitpunkt, wo unser Antrag beim Verteidigungsminister ­landete, sagte die Stadt das öffentliche Gelöbnis ab. So war die Retourkutsche mit der Absage unseres Theaterprojektes durch Volker Rühe keine große Überraschung mehr, wenngleich auch eine tiefe Enttäuschung.

Volker Kröning schlug vor, die nächste Bundestagswahl ­abzuwarten, die dann auch einen Regierungswechsel und mit ­Rudolf Scharping einen neuen Verteidigungsminister brachte. Scharping genehmigte unser Projekt, eine seiner größten Taten während seiner kurzen Ministerzeit.

„Kresnik ist eine Aufführung gelungen, die in dieser Form Theatergeschichte schreiben dürfte“, so der Journalist Rolf C. Hemke. Der Theaterkritiker Michael Laages schrieb: „Dieser ­Totentanz ist eines der wenigen sensationellen Ereignisse im ­Theaterbetrieb. Seit langer Zeit und für lange Zeit.“

Bei der im Bremer Dom geplanten Inszenierung „Die Zehn Gebote“ (2004) kam nach nur wenigen Probentagen die Absage, obwohl die Belegschaft des Doms uns eingeladen hatte, an diesem Ort zu spielen. Danach wurden wir allerdings mit offenen Armen von einem couragierten Pastor in der evangelischen Friedenskirche empfangen, wo alle 27 Vorstellungen ausverkauft waren. Die Diskussionen, die die Aufführungen auslösten, erstreckten sich über die gesamte Stadt. Die Friedenskirche erwies sich als Bastion.

Die Braunschweiger Zeitung schrieb am 22. Dezember 2003: „Das wegen geplanter Nacktszenen umstrittene Theaterstück ‚Die Zehn Gebote‘ von Johann Kresnik wird jetzt doch in einer Bremer Kirche aufgeführt. Nach der Absage der Domgemeinde hat die Friedensgemeinde der Evangelischen Kirche den Proben und der Aufführung zugestimmt. Dies habe der Kirchenvorstand auf einer Sondersitzung entschieden, sagte am Sonntag Pastor Klingbeil-Jahr von der Friedensgemeinde. Er berichtete, er habe bereits zahlreiche Protestschreiben bis hin zu Morddrohungen erhalten. ‚Vom Inhalt des Stückes her ist Reibung vorgesehen. Ich freue mich auf diese Debatte.‘“

In der Welt hieß es am gleichen Tag: „Aus Protest gegen Kresniks Pläne, der ‚Die Zehn Gebote‘ als Collage aus Texten und Ideen von Autoren wie Pasolini, Fassbinder und Sartre entwickeln ­wollte, kündigten Hunderte Bremer ihren Kirchenaustritt an. Kirchliche Mitarbeiter wurden am Telefon als ‚Hure Babylons‘ beschimpft, die den Satan unterstützten. Ein Aktionsbündnis ‚Christen gegen Pornographie‘ bereitete Mahnwachen vor dem Dom vor. Der öffentliche Druck wurde zu groß – die Dom­gemeinde zog die Notbremse. ‚Grundsätzlich ist es eine gute Idee, kirchliche Räume auch für Theateraufführungen zu nutzen‘, sagte die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann. Doch sie schränkt ein: ‚Wenn der gottesdienstliche Raum nur zum Tabubruch benutzt wird, weil Sexszenen und nackte Frauen hier eher Aufregung erzeugen als anderswo, ist das ein Missbrauch des Gotteshauses.‘“

Wenn ich von Intendantenkollegen nach dem Arbeitsverhältnis zu Hans Kresnik gefragt wurde, war die Antwort einfach: Der praktische Arbeitskontakt war unkompliziert; es galt die einfache Regel, das Vereinbarte einzuhalten, dann gab es keinerlei Probleme. Hans Kresnik hatte eine Eigenschaft, die ihn vor allen anderen auszeichnete. Auch Jahrzehnte nach der gemeinsamen Zusammenarbeit rief er mich im Viertel­jahresabstand immer wieder an und erkundigte sich nach ­meinem Befinden. Das hat kein anderer Regisseur gemacht. Insofern war Hans Kresnik eine treue Seele, auf die großer Verlass war. //

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