Bericht
Das Beste beider Welten
Über die Zusammenarbeit des Theater Waidspeicher mit der niederländischen Theatermacherin Ulrike Quade
Im September dieses Jahres feierte das Erfurter Theater Waidspeicher mit einer Uraufführung und einem Festwochenende sein 40-jähriges Jubiläum. Das 1979 als Sparte der damaligen Städtischen Bühnen gegründete und 1993 in Vereinsträgerschaft überführte Haus gehört zu den wenigen kommunalen Puppentheatern im Osten Deutschlands, die ihre Identität als Ensemble- und Repertoiretheater auch in der Nachwendezeit erfolgreich behaupten konnten.
von Katja Spiess
Erschienen in: double 40: Good Vibrations! – Resonanzen im Figurentheater (11/2019)
Assoziationen: Thüringen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Theater Waidspeicher
Sibylle Tröster, seit 2009 Intendantin des Theaters, hat das Profil des Hauses als Ensemblepuppentheater in den letzten zehn Jahren systematisch gepflegt und weiterentwickelt. Mit dem Programm des Festivals Synergura und dem Engagement internationaler Gastregisseur*innen forderte sie Ensemble und Publikum immer wieder mit neuen Ästhetiken und Handschriften heraus und suchte diese für den Spielplan fruchtbar zu machen. Eine der impulsgebenden künstlerischen Partnerschaften der letzten Jahre war die Zusammenarbeit mit der in Amsterdam lebenden Figurenspielerin und Regisseurin Ulrike Quade, aus der zwei Gemeinschaftsproduktionen entstanden: 2017 „Die Liebe der kleinen Mouche“ nach dem Roman von Paul Gallico und 2019 – als Kooperationsprojekt mit dem Theater Erfurt und dem Tanztheater Erfurt – eine Neuinszenierung von Henry Purcells „The Fairy Queen“.
Vor allem die „überzeugend klare Bildsprache und die kompromisslose Konsequenz ihrer Inszenierungen“1 habe sie an Ulrike Quades Theater gereizt, beschreibt Sibylle Tröster den Initiationsmoment für die gemeinsame Inszenierungsarbeit. Sehr wichtig sei ihr deshalb in der konzeptionellen Vorarbeit zur ersten Gemeinschaftsproduktion das partnerschaftliche Miteinander gewesen, „und Ulrike Quades Interesse, mit einem ganzen Ensemble professioneller Puppenspieler*innen arbeiten zu können, hatte großen Anteil daran, dass wir uns letztlich für ‚Die Liebe der kleinen Mouche‘ entschieden“. Auch Ulrike Quade beschreibt als eine wesentliche Qualität der Zusammenarbeit „die Gespräche mit der Intendantin und der Dramaturgin über Inhalte und Repertoire und wie sich diese beiden Größen zueinander verhalten. Ein Gespräch, das in den Niederlanden viel weniger geführt wird, da weniger Repertoireverbundenheit besteht. Auch ist es ein ungekannter Luxus mit Puppenspielern zu arbeiten, die ihr Handwerk bis ins Detail verstehen und selbst Bühnenmaterial anbieten.“
Nicht nur in der konzeptionellen Vorbereitung, auch in der Inszenierungsarbeit selbst erprobten beide Seiten neue partnerschaftliche Konstellationen. Da Ulrike Quades Produktionen stark von raumästhetischen, musikalischen und choreografischen Strukturen geprägt sind, arbeitet sie stets in einem Team von Spezialist*innen aus Musik, Tanz, Lichtkunst und Szenografie. Dieses wurde auch Teil des Erfurter Inszenierungsteams. Gefragt nach den besonderen Herausforderungen, die solch ein die Grenzen von Genres, Strukturen und Nationen überschreitendes Projekt bedeutet, schreibt Ulrike Quade: „Grenzüberschreitungen sind ein zentrales Thema meiner Arbeit. In den Niederlanden gibt es keine Ausbildung zum Puppenspiel, und alle Performer, mit denen ich arbeite, haben eine andere Ausbildung, sind Tänzer, Schauspieler oder Musiker und sind oftmals noch nie einer Puppe begegnet, wenn wir unsere Zusammenarbeit beginnen.“
Über die Organisation von gemeinsamen Arbeitsprozessen hinaus habe das Thema Grenzüberschreitung im Puppentheater für sie vor allem einen inhaltlichen Fokus: „Die Puppe ist in meiner Arbeit zunehmend ein Konzept. Das Bild, welches der Mensch sich durch die neuen Technologien von sich selbst schafft, ist beinahe wichtiger geworden als der Mensch selbst. Somit ist auch die Beziehung vom Menschen zum Objekt und zur Puppe in seiner Sichtbarkeit ein essenzielles Thema für die Bühne.“
In „Die Liebe der kleinen Mouche“ sind es der soziale Mikrokosmos einer Schausteller- und Puppenspielertruppe und die Welt des Puppentheaters, die einander spiegeln und durchdringen. Die – in der Romanvorlage menschliche – Hauptfigur Mouche überschreitet permanent die Grenze dieser beiden Realitätsebenen, da sie mit den Puppen wie mit ihresgleichen spricht und Konflikte aus der Menschenwelt mittels der Puppen anzusprechen und zu lösen versucht. In ihrer Inszenierung löst Quade die Grenze weiter auf, indem sie Mouche von einer lebensgroßen, offen gespielten Puppe verkörpern lässt und damit eine zusätzlich verbindende, zeichenhafte Dimension eröffnet.
In der auf Shakespeares „Sommernachtstraum“ basierenden Semi-Opera „The Fairy Queen“, die Tänze, Gesangsnummern und gesprochene Szenen zu einer großen Feier der Bühnenkünste vereinigt, steht Grenzüberschreitung thematisch wie formal ebenfalls im Zentrum. In Quades Inszenierung sind es vor allem Geschlechterrollen und Geschlechterhierarchien, die lustvoll durcheinandergewirbelt und auf den Kopf gestellt werden. Im Zauberwald vor Athen – der von einem überdimensionalen Traumfänger mit zahlreichen von der Decke hängenden Objekten beherrscht wird – regiert das (von Sängern gespielte) Königspaar Oberon und Titania über ein buntes und queeres (sich aus allen Sparten rekrutierendes) Feenvolk, das die beiden entflohenen (und von Tänzern verkörperten) Paare und die Gruppe der (von Puppenspielern interpretierten) Handwerker in ein turbulentes Macht-, Traum- und Verwirrspiel hineinzieht. Interessant ist hierbei nicht nur die – schon bei Purcell so konzipierte – eklektische Vermischung der verschiedenen Theatergattungen, sondern vor allem ihre Verbindung in einem umfassenden körpersprachlichen Gesamtkonzept. Im inszenatorisch-choreografischen Zusammenspiel von skulpturalen Objekten, Spieler- und Puppenkörpern entstehen neue Beziehungs- und Bedeutungsebenen. Athener Hof und Feenwald erscheinen nicht als polare „Gegenwelten“, sondern als aufeinander bezogene gesellschaftliche Sphären, die sich wechselseitig aufladen und hinterfragen.
Auch wenn „The Fairy Queen“ vorerst das Ende der Zusammenarbeit zwischen dem Theater Waidspeicher und Ulrike Quade markiert, weisen die gemeinsamen Erfahrungen für beide Partner*innen in die Zukunft. „Der Respekt und die beinahe verliebte Faszination, mit der Sänger*innen, Tänzer*innen und Puppenspieler*innen in dieser Produktion der Arbeit der jeweils anderen begegneten“, so Sibylle Tröster, habe bei allen beteiligten Sparten den Wunsch zu weiteren genreübergreifenden Arbeiten geweckt. Und für Ulrike Quade steht fest, dass der „Wunsch nach mehr struktureller Zusammenarbeit mit internationalen Bühnen in Zukunft eine große Rolle spielen wird.“ Denn, so eine der von ihr benannten wichtigen Erfahrungen der Arbeit an einem festen Haus: „Während der Montage des Stücks wurden mir so viele praktische Fragen aus der Hand genommen, dass ich künstlerisch fliegen konnte. Ich denke, dass dies das größte Geschenk ist, das eine Theaterstruktur einem Künstler machen kann. Das Theater als Produktionsstätte und die Autonomie, frei über Inhalte und Titel nachzudenken, ist das Beste beider Welten.“ – www.waidspeicher.de -- www.ulrikequade.nl
1 Die wörtlichen Zitate stammen aus einem Mail-Interview der Autorin mit Sibylle Tröster und Ulrike Quade im August 2019.