Auftritt
Saarbrücken: Das omnipräsente Nichts
Saarländisches Staatstheater: „Kafkas Haus“ nach Erzählungen von Franz Kafka. Regie Laura Linnenbaum, Bühne Valentin Baumeister, Kostüme Michaela Kratzer
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Nino Haratischwili: Fürchtet den Frieden (10/2018)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Saarland Saarländisches Staatstheater
Seit einigen Jahren schon steht Kafka fast auf jedem Spielplan, obwohl er kein einziges Drama geschrieben hat. Doch die Intendanten wissen: Um Schulklassen ins Theater zu locken, ist der inzwischen kanonische Autor ein echter Garant. Oftmals fallen genau aus diesem Grund die inszenatorischen Annäherungen etwas gefällig aus. Am Saarländischen Staatstheater hat man nun mit Laura Linnenbaums fabelhafter Uraufführung „Kafkas Haus“ erfreulicherweise einen ganz anderen Weg eingeschlagen.
Sowohl aus den Romanfragmenten als auch aus bekannten Erzählungen bildet sie eine stimmige Collage, die ein dichtes Gesamtbild des düsteren Kosmos des Prager Schriftstellers ergibt. Bereits in der ersten Szene entfalten sich wesentliche Grundkonstanten seiner Albtraumprosa. Die sieben Darsteller, die im Laufe des Abends abwechselnd mal Gerichtsbedienstete, Josef K. und überhaupt all die mysteriös-grotesken Typen des Kafka’schen Universums mimen, scharen sich vor schwarzer Kulisse um einen Tisch, auf dem ein Anzug liegt (Bühne Valentin Baumeister, Kostüme Michaela Kratzer). Bevor er einem von ihnen angelegt wird, nutzt ihn das Septett als eine Puppe. Die leere, bewegliche Hülle wird zum Inbegriff des modernen, von anonymen Mächten gesteuerten Menschen. Kaum modisch ausgestattet, stolpert die von Raimund Widra gespielte Figur von einer Szene in die nächste. Verzweifelt sucht er seinen Richter und gerät bald schon in einen riesigen Raum voller in Reihen angeordneter Tische. Hierin täuschen die übrigen sechs Spieler pantomimisch administrative Tätigkeiten vor (Choreografie Lili M. Rampre) – maschinelle Betriebsamkeit ohne Herz und Verstand. Jene entfremdete, undurchdringliche Verwaltungswelt erinnert den Zuschauer unmittelbar an die berühmte „Prozess“-Adaption des Hollywoodgenies Orson Welles, dem Linnenbaum mit ihren finsteren Kulissen, den biederen Anzügen sowie der Bürohalle eine sichtbare Hommage zueignet.
Stimmige, luzide Bilder zu entwerfen, ist die Stärke dieser großartigen, 1986 geborenen und schon vielmals gefeierten Künstlerin. Etwa indem sie Anne Rieckhof famos Marilyn Monroes „My Heart Belongs to Daddy“ singen lässt und damit Kafkas ewigen Schuldkomplex gegenüber seinem ihm stets als allmächtig anmutenden Vater humorvoll thematisiert. Oder indem sie die zahlreichen sexuellen Anspielungen in den literarischen Vorlagen vielschichtig auf die Bühne bringt. Entweder tänzeln die Herren auf Stöckelschuhen, oder sie schlüpfen gleich zu mehreren unter das Kleid Rieckhofs, das als Versteck und Ort der geheimen Triebe gleichermaßen dient. Ja, das sind Kafkas Antihelden: immerzu zerrissen zwischen dem sexuellen Begehren und den gesellschaftlichen Normen.
Es gibt sie nur im Plural, als verschiedene Ichs in einem. Linnenbaums postdramatische Strategie, die Texte auf mehrere Personen aufzuteilen, geht vollends auf und spiegelt anschaulich die Identitätskrise des Menschen innerhalb einer ökonomisierten und technisierten Welt. Hierin sind alle austauschbar und misstrauisch. Unentwegt umzingeln und beobachten die Figuren sich gegenseitig. Sucht einer von ihnen doch einmal den Ausgang aus dieser Hölle auf Erden, indem er sich wie in einer der letzten Szenen, auf mehreren gestapelten Tischen stehend, nach oben zu Gott wendet, so wird er einzig des omnipräsenten Nichts gewahr.
Die Heimatlosigkeit, die Ohnmacht, das blanke Entsetzen über die Einsamkeit des Daseins – all diese traurigen Gewissheiten in „Kafkas Haus“ verdichtet dieser Abend zu einem Panoptikum des Schreckens. Es gibt in diesem Schattenreich kein Glück, und noch weniger Wahrheit. Diese Gewissheit stellt Linnenbaum mit aller Wucht aus, hin und wieder ironisch gebrochen, aber insgesamt mit einer tiefen Ernsthaftigkeit. Franz Kafka, der selbst beim Verfassen seiner genialen Texte ab und zu gelacht haben soll, würde es in Saarbrücken schaudern – aus Ehrfurcht und aufgrund der Erkenntnis, welch hoher Grad an Realität seinen surrealen Arrangements doch innewohnt. //