Theater der Zeit

Gespräch

Von der Lächerlichkeit kolonialer Gesten und den vielen Versionen der „Häkeldecke“

Sabine Leucht im Gespräch mit Jan-Christoph Gockel und Michael Pietsch

„Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“: Mit diesem Satz besiegelte der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) seine unheilige Allianz mit dem togoischen Präsidenten Gnassingbé Eyadéma und verlängerte damit die deutsche Kolonialgeschichte in eine bayerisch-afrikanische Spezlwirtschaft hinein. Die togoische Wurstfabrik des Strauß-Freundes Josef März steht heute noch, ebenso fließt bayerisches Bier auf dem Oktoberfest in Lomé. Der Regisseur Jan-Christoph Gockel hat mit „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten – Eine Erwiderung“ (im Folgenden kurz: „Erwiderung“) mit Schauspieler:innen, Musiker:innen, Comics und dokumentarischem Material aus Togo und den Münchner Kammerspielen ein filmtheatrales Mosaik gebastelt, in dem eine zeitreisende Geisterjägerin auf eine lebensechte Strauß-Marionette trifft. Ein Gespräch mit Gockel und dem Schauspieler, Puppenspieler und -bauer Michael Pietsch über kooperative Arbeitsprozesse, Puppen im postkolonialen Kontext und die Rolle der Regie.

von Michael Pietsch, Jan-Christoph Gockel und Sabine Leucht

Erschienen in: double 44: Regie? – Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick (11/2021)

Assoziationen: Bayern Afrika Puppen-, Figuren- & Objekttheater Münchner Kammerspiele

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Jan-Christoph Gockel, Michael Pietsch, was ist die Basis Ihrer Zusammenarbeit?

Jan-Christoph Gockel: Wir kennen uns seit Jugendtagen. Wir kommen vom Land, ja praktisch aus dem Wald: Michas Vater war Förster.

Michael Pietsch: Ich habe mit drei Jahren meine erste Puppe aus Gips gebaut. Seit ich zehn bin, schnitze ich in Holz. Als ich 15 Jahre alt war, habe ich Jan kennengelernt und wir haben gemeinsam einen Theaterabend mit Puppen entwickelt.

JCG: Später hat Michael Schauspiel studiert und ich Regie, wir sind uns am Theater wiederbegegnet und haben da weiterprobiert, wo wir aufgehört hatten. Unsere erste gemeinsame Produktion war Brechts „Baal“. Damals gab es noch zwei klar getrennte Ebenen: Es gab Micha als nerdigen jungen Brecht, der sich eine Superheldenfigur schnitzt – und das größenwahnsinnige Dichtertum fand ausschließlich zwischen Puppen statt. Das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Kunstformen, das uns heute so wichtig ist, hat sich dann mit der Zeit immer weiterentwickelt.

Wie hat die Puppe Ihre Arbeitsweisen und Ihr Theaterverständnis geprägt?

JCG: Dieser Heiner Müller-Gedanke, dass das Theater eine Art Totenbeschwörung ist, ist ja dem Figurentheater immanent: Jeder weiß, Holz hat keine Gefühle. Aber wir verleihen sie ihm qua Spiel und qua Zusehen. Das hat auch über die Puppe hinaus die Art geprägt, wie ich auf Theater gucke: Man bringt Dinge auf die Bühne, die es eigentlich nicht gibt und Vorgänge, die unmöglich sind – und trotzdem glaubt man daran.

In Ihrem Toller-Abend an den Münchner Kammerspielen oder der Frankfurter „Orestie“ stehen die Puppen für verschiedene Zeit- und Realitätsebenen und tragen die Gesichter der Schauspieler. Ihre Franz Josef Strauß-Puppe aus „Erwiderung“ ist dagegen eine klar wiedererkennbare historische Figur.

MP: Aber zugleich ist unser Strauß auch eine Inkarnation, ein Geist aus einer anderen Zeit, der nicht totzukriegen ist. In Deutschland ist Strauß einer gewissen Generation gut bekannt. In Togo dagegen wurden wir oft gefragt, ob das Donald Trump wäre. (lacht)

War es eine bewusste Setzung, dass ausgerechnet der Strippenzieher der Spezlwirtschaft selbst an der Strippe hängt?

JCG: In unserer Vision von Theater schwingen immer mehrere Bedeutungsebenen mit. Michael trägt als Spieler der Strauß-Figur so ein Bavaria One-Startrek-Markus Söder-Outfit. Man kann das so interpretieren, dass dieser Strippenzieher selbst noch von der Gegenwart gesteuert wird. Das Publikum kann sich aber auch mit der Strauß-Figur losgelöst von Michael beschäftigen oder mit den Original-Tondokumenten. Das lässt sich alles nebeneinander betrachten und auch gemeinsam.

Es ist also einkalkuliert, dass an einem Theaterabend, der mit einer Vielzahl ästhetischer Mittel in der Kolonialzeit, den achtziger Jahren und heute spielt, keiner alles versteht? Wie verträgt sich das mit Ihrem politischen Ansatz?

JCG: Ich mag es, wenn es voll ist und die Zuschauer:innen selbst auswählen können, was sie sehen. Politisches Theater lebt von Themen und Diskursen, aber auch von Sinnlichkeit und der Erfahrung, die man als Zuschauer:in machen kann. Als ich angefangen habe im Theater, gab es viele Inszenierungen, die einem so sehr sagen wollten, was wie gemeint ist - und davon ist die Welt schon voll genug. Gerade politische Theaterabende so zu erzählen, dass sie verschiedene Türen und Zugänge haben, ist mir wichtig.

Die Geschichte des Figurentheaters ist voller rassistischer Stereotype. Sie arbeiten seit 2013 regelmäßig in Westafrika. Gibt es denn im postkolonialen Kontext spezielle Fettnäpfchen, in die man treten kann? Man muss sich ja beim Puppenbau auf einen Körper und ein Gesicht festlegen.

JCG: Die Frage, wie viel Form braucht die Puppe oder gerade nicht, hat uns immer begleitet. Für unsere erste Arbeit im Kongo hat Michael versucht, ein Kind zu bauen, das auf alle Kontinente passt.

MP: Die Puppe ist holzfarben und eine der wenigen, die ich nicht bemalt und der ich nicht einmal Glasaugen eingesetzt habe. Es war damals eine Arbeit über den Rohstoff Coltan, der im Kongo abgebaut, in Malaysia geschmolzen, in China in Kondensatoren verbaut und in Europa verwertet wird. Und bei jedem Schritt sind Kinder beteiligt. Dieses internationale Kind kann das afrikanische Kind in der Coltan-Mine, aber genauso gut auch das Kind sein, das in Europa vor der Glotze sitzt. Jede Puppe wird durch das, was auf der Bühne und auf den Reisen geschieht, aufgeladen, aber kaum eine so emotional wie diese.

Das müssen Sie erklären.

JCG: In diese leeren Augen kann man alles hinein-sehen. Und weil der Protagonist des Abends – ein ehemaliger Minenarbeiter und Kindersoldat – seine Geschichte auf der Bühne nicht selbst erzählen konnte, hat die Puppe viel davon übernommen. Wir sind mit dieser Produktion aber auch viel getourt und die Erlebnisse schreiben sich in das Material ein: Der Kopf ist aufgeplatzt, das Holz hat sich verfärbt, die Hand ist verbrannt. Dieser Prozess wird nicht unsichtbar gemacht, sondern wird zum Teil der Erzählung. Es gibt aber auch Unerklärliches - zum Beispiel hatte die Strauß-Puppe plötzlich Flecken auf dem Hemd, als hätte sie geschwitzt … wir wissen nicht, wie das passiert ist.

Warum ist Strauß die einzige Puppe in „Erwiderung“? Sind afrikanische Puppen zu heikel?

JCG: Wir hatten überlegt, noch eine Eyadéma-Puppe zu machen, die togoischen Kolleg:innen meinten aber, den Ex-Präsidenten als Puppe nachzubauen, ginge politisch nicht.

MP: In den filmischen Sequenzen des Abends kommen noch andere Puppen vor, gebaut vom togoischen Puppenspieler und -bauer Danaye Kalanféi. Dieser hat übrigens in Bezug auf unsere Idee mit der Puppe des Expräsidenten gesagt: „Wisst ihr, wie ich das machen würde: Ich würde sagen, es ist die Geschichte von einem König. Die Parabel ist bei uns ganz wichtig.“ Und so erzählen auch wir in einer Szene gemeinsam mit den togoischen Kolleg:innen die Parabel von einem togoischen König und seinem bayerischen Spezl auf Großwildjagd.

Können Sie anhand der „Erwiderung“ beschreiben, wie eine Stückerarbeitung bei Ihnen konkret aussieht?

JCG: Wenn wir in einen Prozess einchecken, wissen wir wenig Genaues. Hier waren es die Eckpunkte: Togo und Bayern. Deshalb ist es auch wichtig und richtig, dass bei der „Erwiderung“ acht Leute in der Autor:innenzeile stehen, obwohl es mit Elemawusi Agbédjidji einen offiziellen Autor gibt, der aber nicht den Anspruch hatte, uns ein fertiges Stück zu schreiben, sondern gesagt hat: „Ich arbeite schreibend mit, so wie die anderen improvisierend, recherchierend oder puppenbauend“. 

Haben Sie in dieser Produktion besonders prozessual gearbeitet? 

JCG: Nein, wir machen das generell so. Bei den postkolonialen Themen ist es nur besonders wichtig, ausreichend Zeit zu haben, weil die Arbeit für die afrikanischen Kolleg:innen sehr viel Konfrontation mit historischer Gewalt und Rassismus mit sich bringt. Als wir dann die Figuren erarbeitet haben, wollte Michael Strauß bauen; Martin Weigel ist aus Wasserburg am Inn und wollte unbedingt den Rosenheimer Wurstzampano spielen. Komi Togbonou hat sich mit dem Funker Siegfried Gaba Bismarck eine Figur ausgedacht, in der sich die große Sehnsucht einer schwarzen Person spiegelt, einer fremden Struktur anzugehören und innerhalb dieser Struktur ausgezeichnet zu werden - und gleichzeitig hat diese Rolle einen operettenhaften Aufzug, in dem sich die Lächerlichkeit kolonialer Gesten zeigt. Und als wir gerade mal wieder über unsere sehr eurozentristischen Perspektiven nachdachten, kam Nancy Mensah-Offei mit afrofuturistischem Bildmaterial, entsprechender Musik und Szenen aus dem „Black Panther“-Film, woraufhin ihr Elemawusi diesen Geisterjägerinnen-Part mit dem Raumschiff geschrieben hat.

Welche Rolle spielen Sie in einem solchen Prozess überhaupt noch als Regisseur?

JCG: Ich verstehe mich als eine Art Showrunner, der Kontakte knüpft, strukturiert und sich das Ganze immer wieder anschaut. Aber eigentlich versuche ich einen sehr kooperativen Prozess zu leiten, aus dem nach und nach aus mosaikartigen Teilen Theater entsteht. Heute heißt das Stückentwicklung, ich stelle mir aber gerne vor, dass Shakespeare auch so gearbeitet hat.

Hat das noch viel mit dem zu tun, was Sie gelernt haben?

JCG: Eigentlich habe ich im Regiestudium genau das Gegenteil gelernt: Permanent senden und immer wissen, wie die Häkeldecke von der ersten bis zur letzten Version aussehen soll. Völliger Irrsinn! Wer kann so was? Die Idee des künstlerischen Genies, das alles weiß und kann, stammt aus dem 19. Jahrhundert und hängt uns immer noch an.

Wie sehr hat die internationale Arbeit Ihre Art, Regie zu betreiben, beeinflusst?

JCG: Sehr, vor allem die Arbeit auf dem afrikanischen Kontinent. Während unserer ersten Produktion in Burkina Faso kam der Lichttechniker eines Tages mit einer Idee für eine Szene und einen Text, den er für diese geschrieben hatte, auf mich zu. Als ich mich darüber gewundert habe, sagte er: „Ja klar, ich habe im Niger ein Theater, da performe ich auch“. Die Aufhebung der Trennung zwischen Genres und Tätigkeiten würde ich als künstlerisches Ideal bezeichnen. – www.peachesandrooster.de

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