Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierung

Im Herzen der Finsternis

„Das Kongo Tribunal“ von Milo Rau untersucht in Bukavu und Berlin die Hintergründe des kongolesischen Krieges

von Andreas Tobler

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Afrika Theaterkritiken Theatergeschichte Sophiensaele

Was kann Theater leisten – angesichts sechs Millionen Toter, die die Konflikte im Kongo seit 1997 gefordert haben? Milo Raus „Kongo Tribunal“ (hier „Die Berlin Hearings“ in den Sophiensaelen). Foto Daniel Seiffert
Was kann Theater leisten – angesichts sechs Millionen Toter, die die Konflikte im Kongo seit 1997 gefordert haben? Milo Raus „Kongo Tribunal“ (hier „Die Berlin Hearings“ in den Sophiensaelen). Foto: Daniel Seiffert

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Es klingt völlig verrückt: Ein europäischer Theatermacher aus einem wohlstandssatten Kleinstaat schlägt mit seinem Team im Kongo auf und veranstaltet dort einen Gerichtsprozess, um die Ursachen der Misere zu klären, die das „Herz der Finsternis“ seit Jahrzehnten im Würgegriff halten. Milo Rau hat mit seinem International Institute of Political Murder (IIPM) genau das gemacht: Der Schweizer Regisseur und sein Team sind in den Kongo gereist, der so groß ist wie Westeuropa, um mit realen Akteuren während dreier Tage in einem Theatertribunal die Gründe des kongolesischen Elends zu untersuchen. Das geschah Ende Mai. Ein Monat später folgten Nachverhandlungen in Berlin.

Dabei wurden bereits vor Beginn der theatralen Gerichtsprozesse harte Vorwürfe gegen Rau erhoben: Von Kolonialismus, Hybris, Geltungsdrang und fehlender juristischer Legitimität war die Rede. Das sind Vorwürfe, die man nicht so rasch erhebt, wenn man die Tradition der Russell-Tribunale kennt, in die sich Rau mit seinem Theatergericht stellte: 1966 rief der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell zusammen mit Jean-Paul Sartre das Vietnam-Tribunal ins Leben, das die Frage klären sollte, ob sich die USA der Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. Begründet wurde das Vietnam-Tribunal damit, dass die Abhängigkeiten unter den Staaten viel zu stark seien, um gewisse Vorgänge zur Anklage zu bringen. Und genau hier setzten die Russell-Tribunale an: Sie wollen unabhängig von allen staatlichen Einflüssen agieren; sie sind aber notwendigerweise machtlos im juristischen Sinne, da das Gewaltmonopol, das zur Vollstreckung von Urteilen notwendig ist, beim Staat bleibt. Dafür kann mit den Russell-Tribunalen alles zur Verhandlung gebracht werden, was Vernunft und Gewissen empört.

Nichts anderes hatte Milo Rau mit seinem „Kongo Tribunal“ im Sinn, dessen erster Teil in der Stadt Bukavu an der Grenze zu Ruanda und Burundi stattfand. Doch was bleibt von diesem Theatergericht? Handelt es sich tatsächlich um das „ambitionierteste politische Theaterprojekt“, wie der englische Guardian vermutete? Oder ist Milo Rau komplett größenwahnsinnig geworden? Die Fragen sind berechtigt. Und sie stellten sich mir wiederholt, als ich Ende Mai nach Afrika reiste, um vor Ort für das Schweizer Radio über das „Kongo Tribunal“ zu berichten. Und sie stellten sich mir nochmals, als ich einen Monat später in den Sophiensaelen „Die Berlin Hearings“ verfolgte. Was also kann Theater leisten – angesichts sechs Millionen Toter, die die schwelenden Konflikte im Kongo seit dem Ende des Mobutu-Regimes im Jahr 1997 gefordert haben?

In einer Abstimmung unter den Tribunal-Teilnehmenden würde man sich wahrscheinlich darauf einigen, dass eine wesentliche Qualität von Raus jüngstem Projekt darin bestand, dass es einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung leistete. Und dass es zudem die Frage nach der Verantwortung stellte, indem es in Form von Anklagen, Befragungen und Plädoyers die Ursachen der kongolesischen Misere untersuchte. Das zeigte sich vor allem in Bukavu, wo in den Verhandlungen über die Rohstoffproblematik wiederholt die Konfliktlinien zwischen den industriellen Abbaufirmen und den einfachen Minenhandwerkern deutlich wurden, die oftmals noch von Hand graben. Die bewusstseinsbildende Kraft zeigte sich aber auch in Berlin, wo internationale Experten nochmals mit Nachdruck die Frage nach der Verantwortung formulierten, die auch schon in Bukavu eine Rolle spielte. Darunter auch der Soziologe Harald Welzer, der dafür plädierte, dass wir alle für die kongolesische Tragödie verantwortlich seien, da diese deutlich mache, dass es eine Staffelung der Verantwortung gebe, die all jene zu übernehmen hätten, die nicht zu den Opfern gehörten. Also auch wir Westeuropäer.

Man kann das Plädoyer von Welzer – wie die gesamte Anlage von Raus Theatergericht – als linkes Idealistentum abtun. Oder gar als falsche Aktivität, weil das „Kongo Tribunal“ mit seiner aufklärerischen Absicht kaum eine unmittelbare Änderung in die Welt bringen wird. Dabei wird aber mindestens eine Qualität von Theater verkannt: Als Sphäre des Sinnlichen kann Theater Verantwortung über Unmittelbarkeit einfordern – und darüber eine Wirkung in Sachen Bewusstseinsbildung erreichen, die andere Kommunikationsformen wie der gedruckte Text oder das Fernsehbild in dieser Stärke nicht entfalten können. So zumindest meine Erfahrungen beim Besuch der Berliner „Hearings“, in denen ich mich sogar vom pathetischen Plädoyer des belgischen Gerichtsvorsitzenden Jean-Louis Gilissen angesprochen fühlte, der am Ende einen flammenden Appell formulierte: Die Geschichte werde über uns richten, sagte Gilissen. Und sie werde sehr streng sein.

Im Ostkongo war Raus Theatergericht aber nicht nur ein moralisches Tribunal, sondern auch ein Stück Vorahmung, um einen Begriff von Brecht zu verwenden: Die Jury des Theatergerichts war aus nationalen und internationalen Juristen zusammengesetzt und damit ein Beispiel für die Chambres mixtes, mit denen Juristen wie der Kongolese Sylvestre Bisimwa, Untersuchungsleiter von Raus Tribunal, vor Ort im Kongo die Verbrechen untersuchen wollen. Und wenn gegen Ende der Sitzungen in Bukavu das Mikrofon im Saal herumgereicht wurde, erfüllte Raus Theaterprozess die Funktion eines Volkstribunals, von dem Jean-Paul Sartre träumte.

Neben der Vorahmung und der Einforderung von Verantwortung wies Raus „Kongo Tribunal“ weitere Qualitäten auf. Diese hatten paradoxerweise gerade mit den Mängeln des Theatergerichts zu tun. Das zeigte sich insbesondere im Kongo. Als die Verhandlungen dort begannen, nutzte der Gouverneur der Provinz Süd-Kivu, zu der Bukavu mit seinen 800 000 Einwohnern gehört, Raus Gerichtsverfahren wiederholt für seine Machtdemonstrationen: Der Regierungsstatthalter kam notorisch zu spät, weshalb die Verhandlungen mit Verzögerungen von bis zu einer Stunde stattfanden. Der Gouverneur machte damit deutlich, dass er es war, der Raus „Kongo Tribunal“ ermöglichte – und nicht der Idealismus eines Jean-Paul Sartre oder Bertrand Russell, die auf Unabhängigkeit pochten. Aber auch die politische Opposition wusste den Theaterprozess zu nutzen: Der Präsidentschaftskan -didat Vital Kamerhe war mit einer großen Mannschaft angereist, zu der auch Kameramänner und Fotografen gehörten.

Letztlich waren es gerade diese Konkurrenz zwischen Regierung und Opposition und die sich überkreuzenden Interessen von NGOs und UNO-Kritikern, die es möglich machten, dass auf Raus „Kongo Tribunal“ so viele unterschiedliche Aspekte mit realen Akteuren verhandelt werden konnten. Die juristische Konsequenzlosigkeit der Kunst erlaubte zudem Geständnisse, die in einem regulären Gerichtsverfahren kaum möglich gewesen wären: „Hat Ihre Miliz vergewaltigt?“, wurde der Vertreter einer Rebellentruppe gefragt. „Die kongolesische Armee vergewaltigt auch“, entgegnete der Befragte, der zwecks Anonymität unter einer braunen Burka verhüllt wurde. Nicht zuletzt gab es in Raus Theaterprozess auch ein gewisses Maß an Konfusion, die als Erkenntnisbeschleuniger wirkte. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Innenminister der Provinz Süd-Kivu freimütig zugab, dass er nicht wisse, ob die Polizei in jener Nacht im Dienst war, als sich das Massaker ereignete, das Rau mit seinem „Kongo Tribunal“ untersuchte.

Es bleibt die Frage, ob Raus Tribunal nun wirklich das „ambitionierteste politische Theaterprojekt“ war. Sicher ist, dass das „Kongo Tribunal“ in der Frage nach der Verantwortung, der Vorahmung der Chambres mixtes und den Möglichkeiten jenseits des Juristischen wesentliche Qualitäten von Theater deutlich machte, die nicht zu gering geschätzt werden sollten. //

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