Theater der Zeit

Auftritt

Schaubühne am Lehniner Platz: Im Paranoia-Paradox

„BUCCI × ꒰(・ ‿ ・)꒱ × Paranoia“ von lynn t musiol und Marcus Peter Tesch – Text und Performance lynn t musiol und Marcus Peter Tesch, Bühne Ulla Willis, Kostüme Marc Freitag

von Rebecca Preuß

Assoziationen: Performance Berlin Theaterkritiken Dossier: Queeres Theater Marcus Peter Tesch lynn t musiol Schaubühne am Lehniner Platz

„BUCCI × ꒰(・ ‿ ・)꒱ × Paranoia“ von lynn t musiol und Marcus Peter Tesch an der Schaubühne. Foto Justus Lemm
„BUCCI × ꒰(・ ‿ ・)꒱ × Paranoia“ von lynn t musiol und Marcus Peter Tesch an der SchaubühneFoto: Justus Lemm

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Geht es schon los? Das Licht im Studio der Schaubühne am Lehniner Platz ist noch an, als lynn t musiol mit einem Mikrofon in der Hand die Bühne betritt. Das Setting ist schlicht: Auf einem metallenen Boden stehen graue Wände und deuten ein Haus an. Zwei silberne Stühle am rechten und linken Bühnenrand; ein Fenster, das Rollo geschlossen (Bühne Ulla Willis). lynn beginnt zu erzählen, als solle eine Umbesetzung angekündigt oder eine Triggerwarnung ausgesprochen werden. Doch das Stück hat bereits begonnen, die Grenzen zwischen Performance und Realität sind fließend.

lynn ist nicht-binär und lebt in einem weiblichen Körper. Die Performance beginnt mit lynns Eierstöcken. lynn erzählt: „Nach dem Eisprung geht es heiter weiter: Da weinen meine Eierstöcke. Also so richtige Klage. Aber die weinen nicht, weil ich nicht schwanger geworden bin, sondern darüber, dass Gott so straight ist und mir diese Eierstöcke, ja, anvertraut hat?“ Wir befinden uns irgendwo zwischen einem intimen Gespräch unter Freund:innen und einem Stand-up-Auftritt in einem kleinen Comedy-Club. Teils noch verhaltenes, teils herzliches Lachen aus dem Publikum erreicht die ebenerdige Studiobühne unmittelbar.

Der erste Bruch, direkt durch die vierte Wand. „Hä? Das kann doch nicht wahr sein. Das ist grad nicht so funny. Stopp mal hier. Macht mal, Leo, mach mal bitte Licht an.“ lynn wirkt aufgewühlt. „Da hat doch grad jemand mitgefilmt! Filmen ist nicht erlaubt. Ich mein, was hast du damit vor? Mit dem Filmmaterial? Will mich jemand bloßstellen? Will hier jemand meine Ideen klauen?“ Ist es die Privatperson lynn oder die Bühnenfigur? Der Puls im Publikum steigt und gleichzeitig steht der Atem still. Dröhnende Musik und rote Schrift, die auf die graue Hauswand projiziert wird, bringen die Erlösung: Wir sind noch immer in der Fiktion; nein, in der Autofiktion. Das Rollo des Fensters öffnet sich einen Spalt. Marcus Peter Tesch dahinter konstatiert: Paranoia.

Doch ist die Ursache für lynns Paranoia die queere Identität? Glauben wir Sigmund Freud, gehen Homosexualität und Paranoia Hand in Hand. An dessen zweifelhaften Überzeugungen zur psychischen Verfasstheit queerer Menschen arbeiten sich lynn und Marcus in einer nach Freud’scher Gesprächstherapie anmutenden Sequenz ab. Sie tragen weite Sporthosen mit seitlichen Druckknopfleisten und schlichte Pullover, Loafers und Sneaker (Kostüme Marc Freitag). Die Textbücher haben sie mit auf der Bühne. Ihr Auftritt wirkt nicht theatral, gar alltäglich. Die knapp 100 Menschen im Publikum schmunzeln, lachen laut, einmal gibt es einen Zwischenruf. Die Performance lädt ein, sich als Teil davon zu fühlen, während sie ja selbst Teil der Realität ist.

Wo Marginalisierung ist, da ist auch Paranoia. „Wir als queere Personen sind historisch misstrauisch“, erklären lynn und Marcus in einem Kurzinterview für die Schaubühne im Vorfeld ihrer Performance. „Und die Mehrheitsgesellschaft ist historisch paranoid im Umgang mit queeren Identitäten und Gemeinschaften.“ Die einzelnen Szenen der Performance reihen sich aneinander und hängen doch nicht zusammen. Mit einem bedrohlichen Crescendo markieren Streicher die harten Übergänge, als stünde die Apokalypse kurz bevor. (Oder ist dieser Gedanke paranoid?)

Einmal erzählt Marcus von dem Päckchen eines Nachbars, das bei ihm abgegeben wurde. Oder wurde es das gar nicht? Er kann sich zumindest nicht daran erinnern, es angenommen zu haben. Auf jeden Fall fordert dieser Nachbar nun, ihm das Päckchen auszuhändigen. Oder sind es zwei Nachbarinnen? Wann immer Marcus den Hausflur betritt, hat er Angst, mit der Päckchen-Misere konfrontiert zu werden. Und so bleibt Marcus, der in dieser Geschichte nur in der dritten Person über sich spricht, nichts anderes übrig, als wegzuziehen. Aus seiner Wohnung, aus Moabit, am besten gleich aus Berlin, und sich eine neue Existenz in der brandenburgischen Provinz aufzubauen. Ihn plagt: Paranoia.

Veronika Bachfischer aus dem Schaubühnen-Ensemble betritt die Bühne als lynns existenzielle Coach (im Englischen geschlechtsneutral). Wofür genau man eine solche braucht, bleibt schleierhaft. Dann ergreift sie das Wort und wird zur Moderatorin. Veronika – weiß, cis, endo und hetero – gibt dem intellektuellen Diskurs über die queere Paranoia Stimme und Gesicht. Wortreich bespricht sie das Motiv der „queeren Schurken“ in Disney-Filmen (von Ursula über Scar bis Cruella De Vil). Sie monologisiert über die Angleichung der Ungleichen an eine gleichförmige Welt. Nach zwei Sätzen hat sie lynn und Marcus verloren. Die beiden stehen am linken Rand der Bühne und nicken immerzu. Von der Brust bis zu den Knöcheln stecken sie in einem Wurfzelt, in dem sie eben noch eine tänzerische Darbietung hingelegt haben, und starren Veronika an. Die ist sich sicher: Man kann nie paranoid genug sein, denn „Paranoia ist im Grunde genommen die Ideologie, die zur Wettbewerbsgesellschaft passt“. Schlagartig wird sie unsicher: „Oder ist das jetzt kulturelle Aneignung?“

So hangelt sich die Performance von Szene zu Szene. Auf absurd-komische Fiktion folgt beklemmende Autofiktion, wenn Marcus von „der Infektion“ erzählt. Er ist 14, vielleicht 15 oder 16. Roland oder Romuald oder Roman Ende 30, wahrscheinlich älter. Im Publikum steht die Luft. Auf einer Matratze im Kofferraum eines weißen Kastenwagens. Auf einem Schotterweg nahe dem Bayerischen Wald. Ist es dabei passiert? Wo beginnt die Schuld? Und wie lang hat er sich daraufhin selbst unwissend schuldig gemacht?

Ein Wortgefecht zwischen lynn und Marcus entfacht in den letzten Zügen der Performance über die Frage, wer queer genug ist, um über diese spezifische Paranoia sprechen zu dürfen. Coach Veronika greift ein. Sie hat sich Gedanken gemacht über die Sache mit der kulturellen Aneignung, erzählt sie. „Paranoia ist kein Privateigentum. Wir alle, WIR ALLE, wir sind ALLE fucking paranoid!“

Können wir dieses Paranoia-Paradox überwinden? „Queeres Lernen bedeutet ja auch, dass Fehler eher gute als schlechte Überraschungen sein können“, zitiert lynn Eve Kosofsky Sedgwick. „BUCCI × ꒰(・ ‿ ・)꒱ × Paranoia“ fängt an, wo die klaren Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Skript und Improvisation, Tragik und Humor aufhören. Die Performance geht unter die Haut. „Brother“ von The Organ tönt aus den Studioboxen. Staffelfinale. Beim Schlussapplaus schaut nicht nur das Publikum in glasige Augen.

Erschienen am 11.9.2024

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