Theater der Zeit

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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Der Universalkünstler William Kentridge zeigt sein transdisziplinäres Gesamtwerk erstmals in Berlin

von Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Theater der Zeit: Isabelle Huppert: Exklusiv im Gespräch (06/2016)

Assoziationen: Afrika Berlin Performance Akteure William Kentridge Berliner Festspiele

Den Fluss der Zeit verändern – „Refuse The Hour“ von und mit William Kentridge (Kapstadt 2015). Foto Jac de Villier
Den Fluss der Zeit verändern – „Refuse The Hour“ von und mit William Kentridge (Kapstadt 2015).Foto: Jac de Villier

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Der Wunsch, durch die Zeit zu reisen, ist alt. Noch besser wäre es, ihre Grenzen aufzuheben und den Zeitverlauf selbst zu bestimmen. Künstler haben dies schon oft versucht. William Kentridge baut sein gesamtes künstlerisches Werk darauf auf. Der 61-jährige südafrikanische Künstler erkundet in seinen Filmen, ob die Welt sich zurückdrehen und die Zeit rückwärtslaufen könnte. Würden wir uns besser erinnern? Kentridges mittlerweile preisgekrönte Filme und Zeichnungen thematisieren den alles verändernden Fluss von Zeit und wie paradox, bruchstückhaft und sprunghaft unser Gedächtnis arbeitet. Ganz gleich, in welchem Medium er arbeitet, ob als Künstler, Schauspieler oder Regisseur ruft er Erinnerungsbilder auf, überlagert sie und lässt sie mit der Zeit verblassen, als würde Gras darüber wachsen. Es sind im Grunde Innenbilder, denen er in seinen Arbeiten mehr intuitiv als systematisch nachgeht, um den Ursprung ihrer frühen Entstehung in Südafrika aufzuspüren.

Als Sohn einer jüdischen Anwaltsfamilie, die Nelson Mandela und die Familie von Steve Biko vertrat, wuchs William Kentridge in Johannesburg auf. In Europa wurde er durch seine Animationsfilme und Arbeiten für die Handspring Puppet Company bekannt. Seitdem hat er mehrfach an der Documenta und an der Biennale in Venedig teilgenommen und in renommierten Museen ausgestellt. Zurzeit stellt der Universalkünstler und sympathische Tausendsassa im Martin-Gropius-Bau sein transdisziplinär angelegtes Gesamtwerk unter dem Titel „No it is!“ vor. Mit der südafrikanischen allgegenwärtigen Redewendung überschreibt er nicht nur seine komplexen geschichtsträchtigen und surrealen Bilderwelten, sondern behauptet auch deren körperliche Präsenz und Wirklichkeitserfahrung, die sich wie ein roter Faden durch die Museumsräume ziehen.

An den Anfang setzt er die Rauminstallation „7 Fragments for Georges Méliès“. Kentridge widmet sie dem französischen Pionier der Filmkunst, dessen legendären Trickfilm „Die Reise zum Mond“ von 1902 er adaptiert, wenn er auf einer Kaffeekanne in den gezeichneten Kosmos fliegt. Später sieht man dem Künstler in seinem Studio beim Arbeiten zu. Kentridge verdoppelt und verdreifacht sich, tritt aus dem Bild oder löst sich auf wie ein Magier und wird selbst zu einer Art Kunstfigur. Das hat zuvor schon der US-amerikanische Künstler Bruce Nauman versucht, als er in den 1960er Jahren die grundlegende Frage stellte, was ein Künstler eigentlich macht, wenn er im Atelier ganz auf sich selbst gestellt ist. Die daraus entstandenen Bilder seiner Selbstbeobachtungen sind um die Welt gegangen und haben Generationen beeinflusst. Auch Kentridge bedient sich dieser Methode. Oft wandert er in seinem Atelier stundenlang auf und ab. Auf einer seiner berühmten Lecture Performances erläutert er, dass ihm beim endlosen Umherwandern die Ideen langsam in den Kopf kommen. Er nennt das „peripheres Denken“.

Eines der fundamentalen Dinge, die im Studio passieren, sei „die physische Aktivität, Striche zu setzen, auszuradieren und neu zu zeichnen, bei der immer eine Kluft zwischen Kopf und Arm besteht – ein Sichverlassen auf das motorische Gedächtnis der Hand bei der Manifestation von Ideen“. Für William Kentridge entsteht so die eigentliche Kunst. Das Besondere daran sei, dass die Welt auf diese Weise physisch hereinkomme, in Form von Bildern, Gedanken, Gesprächen, Zeichnungen, Texten oder Elementen an der Wand. Das Studio ist der Ort, an dem er die Welt dekonstruiert, auseinandernimmt und wieder zusammensetzt. Kentridge filmt den Vorgang, wie seine Bilder entstehen, als Selbstinszenierung und spielt die Aufnahmen in der Aufführung rückwärts ab. Da läuft dann der Kaffee aus Tassen heraus und kehrt zurück in die Espressokanne, der Pinsel sammelt seine Zeichnungen wieder ein, und die herumfliegenden Bücher werden rücklings vom Künstler aufgeschnappt. Damit gelingen ihm hinreißend poetische, fast philosophische und komische Filmarbeiten, in denen Geheimnisse und allerhand Zauberkraft stecken. In den Ausstellungsräumen wird das Motiv des Künstlerstudios als Wunderkammer wiederholt aufgegriffen. Es erlaubt den Besuchern einen Blick in das Atelier des Künstlers. Neben Arbeiten aus seiner beachtlichen Privatsammlung mit Blättern von Albrecht Dürer, Pablo Picasso, Max Beckmann und Edward Hopper sind Möbel aus dem Studio und technische Geräte zur Bildbetrachtung im Raum arrangiert. Zu sehen sind Grafiken, Skulpturen und vor allem Kentridges „Drawings for Projection“, mit denen der Künstler weltberühmt wurde. Kentridge, der die Kohlezeichnung als das unmittelbarste Medium seines künstlerischen Ausdrucks wählte, findet in dieser scheinbar extrem einfachen Technik seine Freiheit zum assoziativen Denken. Durch sie eröffnet sich für ihn ein Feld der ständigen Transformation und Verwandlung, was ihm gestattet, Bildaussagen unvollendet und offenzulassen.

Alle seine Animationsfilme wie „Felix in Exile“ (1994), „Stereoscope“ (1999), „Tide Table“ (2003) oder „Other Faces“ (2011) basieren auf einer Abfolge von unzähligen Kohlezeichnungen. „In der Welt der Animation“, sagt er, „ist es Tradition, dass aus allem, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hat, alles Mögliche werden kann. Deshalb hinterlässt auch Gewalt (dort) keine Folgen. Ein Spaziergänger, dem in einer Szene ein Safe auf den Kopf fällt, sodass er völlig plattgewalzt ist, rappelt sich in der nächsten Szene schon wieder auf und lebt munter weiter, als wäre nichts geschehen. Ein anderes Mal wird er von einer Schneidemaschine in zwanzig Scheiben geschnitten, sodass er auseinanderfällt.“ Kentridges Protagonisten, der weiße Minenbesitzer Soho Eckstein und dessen jugendlicher Gegenspieler Felix Teitelbaum, begegnen sich in verschiedenen Episoden während des industriellen Aufstiegs und Falls von Johannesburg, seiner Heimatstadt, die vom Bergbau lebte und von jahrzehntelanger rassistischer Unterdrückung und Gewalt gezeichnet war. Es sind phantastisch-surreale Geschichten, die intuitiv, ohne Drehbuch entstehen. Kentridge will damit erzählerische Verbindungen schaffen, die uns helfen sollen, „eine Vergangenheit und eine Zukunft zuzulassen und nicht alles als Gegenwart zu nehmen“.

Viele szenische Arbeiten entwickelt Kentridge, der nicht nur für die Handspring Puppet Company in Johannesburg, sondern auch mit großen Opernhäusern wie der Metropolitan Opera in New York zusammenarbeitet, auf der Grundlage von Musik und Literaturvorlagen. Sein monumentaler Videofries „More Sweetly Play the Dance“ (2015), ebenfalls im Gropius-Bau zu sehen, geht auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ zurück. Es ist ein Totentanz voller bildgewaltiger Allegorien aus dem Mittelalter, die der Künstler als ewige Prozession aus tanzenden Gerippen, Patienten mit Infusionsgeräten, Hausmädchen und Blaskapelle vorüberziehen lässt. Auf der knapp 40 Meter langen Leinwand erstreckt sich eine trostlos gezeichnete Landschaftskulisse, vor der die im Schattenriss gestalteten Silhouetten vorbeimarschieren. Es scheint ein endloser Zug, der den Bildrhythmus vorgibt und die großen Themen Migration, Flucht und Rassendiskriminierung anspricht, die wir gerade überall vor Augen haben. Wie man es wendet, auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat William Kentridge, wenn nicht in die Zukunft, so doch in die Gegenwart gefunden.

Im Rahmen des Performing Arts Festivals Foreign Affairs (5. bis 17. Juli) wird die Ausstellung „No it is!“ im Haus der Berliner Festspiele fortgesetzt. William Kentridge projiziert dort Arbeiten an die Fassade, in den Kassenraum, die Kantine. Aufgeführt werden unter anderem seine „Drawing Lessons I – V“ sowie wichtige Arbeiten für das Theater wie „Die Winterreise“ und „Ubu and the Truth Commission“ der Handspring Puppet Company. //

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