Theater der Zeit

digitalität und theater I

Ausschließlich digital

Das Landestheater Detmold zeigt drei neue Onlinestücke in Zusammenarbeit mit John von Düffel und dem Studiengang Szenisches Schreiben an der UdK Berlin

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Dramatik Nordrhein-Westfalen Dossier: Digitales Theater Guido Wertheimer Landestheater Detmold

André Lassen in „Echtzeit-Komplizen“.
André Lassen in „Echtzeit-Komplizen“.Foto: Marc Lontzek

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Abgefilmtes Theater – man hat sich daran gewöhnt. Nicht nur in Pandemiezeiten. Videoaufzeichnungen sind eins von wenigen Mittel, um eine Ahnung der flüchtigen Kunstform Theater für die Nachwelt zu bewahren, sie sind geschichtliche Dokumente. In der Gegenwart überzeugen sie oft nicht so ganz, bleiben schlapper ­Ersatz für das Live-Erlebnis. Es gibt Ausnahmen, gerade während der Lockdowns. Das Landestheater Detmold geht nun andere Wege. Unter dem seltsamen Titel „UH? AH!“ – der tiefsinnige Dialog kommt in einem der Texte vor – präsentiert die Bühne auf ihrer Webseite drei kurze Stücke, die extra für die digitale Welt entstanden sind. Geschrieben von Studierenden des Lehrgangs für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin.

Mastermind hinter dem Projekt ist John von Düffel, der Branche bestens bekannt durch souveräne Roman- und Klassikerbearbeitungen, ein Vielgespielter, ein Pragmatiker. Er ist Professor an der UdK. Wenn seine Studierenden fragen, wie man Dramatiker wird, antwortet Düffel: „Indem man Stücke schreibt.“ Das digitale Theater in Detmold hat klare Vorgaben gemacht. Da sind zum einen die Schauplätze. Die Lkw-Garage des Theaters, ein sehr schmaler Gang, das Büro des Geschäftsführers. Die Dramatikerinnen und Dramatiker müssen sich für einen Spielort entscheiden und dürfen nicht wechseln.

Außerdem ist die Besetzung vorgegeben. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler machen mit, jeweils in Paarungen, die von der Dramaturgie vorher festgelegt wurden. „Das war die Herausforderung“, erklärt John von Düffel. „Was fällt einem zu einer Grande Dame des Theaters und einem jungen Schauspieler ein? Oder zu zwei Schauspielern mittleren Alters.“ Die Stücke sollen ungefähr eine halbe Stunde lang werden, „ein Hybridformat ­zwischen Theater und Film“. John von Düffel nennt einen der ­großen Unterschiede zum Live-Theater: „Man kann sich, wenn man im Raum sitzt und auf die Bühne schaut, zwar näher heranfühlen. Aber man kann sich nicht näher heranzoomen.“

In der Stoffwahl waren die Studierenden frei. Sie sollen die Themen verhandeln, die ihnen wichtig sind, und die Beschränkung als Chance begreifen. „Man ist nur gut, wenn man leidenschaftlich ist“, sagt John von Düffel. „Vielleicht sind hier Keim­zellen für größere Stücke entstanden.“ Doch zunächst geht die Blickrichtung ausschließlich ins Digitale. Die Webseite ist die Bühne. Düffel und die Studierenden haben diskutiert, ob sie Ka­meraeinstellungen schon ins Skript schreiben sollen. Also mehr Drehbücher als Theaterstücke verfassen. Sie haben sich dagegen entschieden. Die Regisseurinnen und Regisseure – sie kommen von der Regieklasse der Folkwang Universität der Künste und damit aus der gleichen Generation – sollen kreative Freiheit haben.

Ein gelungenes Beispiel ist „Garagenblues“ von Anaïs Clerc. In einer Werkstatt sucht die junge, leicht verpeilte Helena gerade nach ihrer Katze, als eine hektische Kundin hereinpoltert. Agathes Auto braucht dringend eine Überholung, was nicht durch Handauflegen oder Ölnachfüllen zu erledigen ist. Agathe ist gestresst, ihr kleiner Sohn kommt zu Besuch, sie ist geschieden, lange ­Geschichte. Helena leiht ihr ein Auto, einer Fremden, die sie ge­rade erst kennengelernt hat. Schon die erste Szene hat Regisseur Alexander Vaassen mit dynamischer Handkamera gefilmt und zeigt, dass hier nicht nur die Bilder, sondern auch die Gefühle in Bewegung kommen. Ein zentraler Dialog findet im Chat per Smartphone statt, direkt abgefilmt, ein cellphone in the dark.

Das alles sind filmische Mittel. Dennoch bleibt der Theatercharakter erhalten, durch die Einheit des Raums, auch durch die Sprache, die nicht im Realismus stecken bleibt, sondern oft leicht überhöht wirkt. Stella Hanheide ist als Werkstattbesitzerin Helena verträumt, ein bisschen weltentrückt, manchmal blendet sie sich einfach aus und zieht sich in ihre Gedanken und Fantasien ­zurück. Natascha Mamier wirkt als Agathe mehr in der Realität verwurzelt, doch auch sie hat Momente, in denen sie aus der ­Normalität herauskippt. Zum Beispiel wenn sie Helena eine erfolglose Liebeserklärung macht und diese Wort für Wort wenig später wiederholt. „Garagenblues“ erzählt eine zarte menschliche Begegnung in Abwesenheit der Katze, die für Helena bisher der zentrale Sozialkontakt war. Ein Stück über Einsamkeit und den Versuch, ihr zu entkommen.

Auch Maleficent und Tigger kämpfen um einen Ausweg aus ihren festgefahrenen Leben. Sie haben eine Bank ausgeraubt und verstecken sich nun an einem absurden Nicht-Ort, in einem schmalen Gang. Immer wieder horchen sie an den Wänden, versuchen, Geräusche zu deuten. Sie haben nichts zu essen oder zu trinken mitgebracht, Maleficent hat sogar ihren Powerriegel ver­loren. Dann entdecken sie Tiefkühltorten. Julia Herrgesell bedient sich in ihrem Stück „Echtzeit-Komplizen“ beim absurden Theater. Es gibt eine Menge surrealer Momente, einen Popsong, beide sprechen Monologe direkt in die Kamera, dann wechselt das Licht. Eine unterhaltsame Fingerübung mit offenem Ende, schönes Schauspielfutter für Kerstin Klinder als Maleficent und André ­Lassen als Tigger. Das Aufeinandertreffen der Generationen – sie könnte seine Mutter sein – könnte noch mehr ausgearbeitet ­werden, da bleibt es bei groben Skizzierungen.

Ganz nah am Theater ist das Stück „Die Unzulänglichkeit der Dinge“ von Paula Kläy und Guido Wertheimer. Inhaltlich wie ästhetisch. Die beiden haben sich das Arbeitszimmer des Geschäftsführers im Landestheater als Spielort ausgesucht und zeigen dort einen ganz klassischen Dialog, ohne auffällige filmische Mittel zu nutzen. Der Text könnte ohne Probleme sofort als Ein­akter auf einer Studiobühne gezeigt werden. Die Aufgabe des ­Projekts hat das Duo insofern nicht erfüllt, gleichwohl ist ein hochinteressantes Projekt dabei herausgekommen.

Zwei Herren, ein Chef und ein Angestellter, pirschen zunächst umeinander herum. Erste, wenig überraschende Ent­hüllung: Der Chef will seinen Angestellten feuern. Dann wird es kurios. Anscheinend arbeiten die beiden in einem Theater, das dringend junges Publikum haben will und in einem Umbauprozess ist. Das Alte wird entsorgt, um dem Neuen Platz zu machen. Und Herr Pierrot, der Angestellte, ist viel älter als er aussieht. Mit Bertolt Brecht will er noch zusammengearbeitet haben. Und sein größter Wunsch ist es, einmal das Kostüm der Schauspielerin ­Carola Neher, Brechts Wunsch-Polly aus der „Dreigroschenoper“, zu tragen. Das hängt anscheinend im Fundus. Und dann kommt es zu einer im wahrsten Sinne des Wortes merk-würdigen Szene. Pierrot singt in diesem Kostüm mit traurigem Blick Brechts ­„Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens“. „Ja, mach nur einen Plan. Sei nur ein großes Licht. Und mach dann noch nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“ Der hinreißende Schauspieler Gernot Schmidt singt nicht schön, verfehlt manche Töne, aber sie kommen aus dem Herzen. Und der Chef ­(Patrick Hellenbrand) versteht. Am Ende sind die beiden in Rat­losigkeit vereint. Wo soll es hin, das Theater, zwischen Poesie und Partizipation?

Diese subtile Selbstreflexion junger Theatermenschen überrascht. Weil sie gegen den Trend zu stehen scheint, in dem ihre Generation gerade Theater begreift. Umso spannender und wertvoller ist sie, zumal Luis Liun Koch sie präzise inszeniert hat. Da ist es auch völlig egal, ob dieses Stück online oder auf der Bühne zu sehen ist. Ob es mit den technischen und ästhetischen Möglichkeiten der Digitalität spielt oder nicht. Paula Kläy und Guido Wertheimer haben etwas zu sagen, über die Vergangenheit und die Zukunft der Kunstform, der sie sich verschreiben wollen.

Ob es sinnvoll ist, Stücke direkt für das digitale Theater zu schreiben, ob sich eine lebensfähige Kunstform zwischen Bühne und Film entwickelt, kann das Projekt des Landestheaters Detmold natürlich nicht beantworten. Wahrscheinlich wird es eine Rand­erscheinung bleiben, falls keine neuen Lockdowns kommen. Allerdings ist es eine tolle Möglichkeit, auf Talente aufmerksam zu werden – wie in diesem Fall auf Paula Kläy und Guido Wertheimer. //

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