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Wasserspiele mit bitterem Abgang
Das Zürcher Theater Spektakel als gewichtiger Koproduzent – mit Pussy-Riot-Aufreger
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Freie Szene Theaterkritiken Schweiz
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Wenig schätzt die Schweiz mehr als die Ruhe und den unaufgeregten Fortgang des Bewährten. Auch deshalb tut sich das Land mit allem, was die Harmonie stört, erheblich schwerer als seine Nachbarn. Wenn also Mitglieder einer Moskauer Punkband in der Bundeshauptstadt sich bemüßigt fühlen, mit Anti-Kriegs-Graffito Mauern beschmieren zu müssen, wird getan, was getan werden soll: Man führt die Unbequemen in Handschellen ab. (Die Reinigungskosten von 5000 Schweizer Franken wurde Pussy Riot großzügig erlassen.)
Als Vorspiel zu ihrem ausverkauften Konzert am Zürcher Theater Spektakel war die Aktion von Pussy Riot der Aufreger des diesjährigen Festivals. Doch der zusätzlichen Aufmerksamkeit in Bern hätte es mitnichten bedurft: Nach zwei Jahren Pause, letztes Jahr gab es eine Sparvariante, und vielen Remote-Projekten schien das Publikum nach Live-Erlebnissen nachgerade zu lechzen. Nach Ereignissen wie dem gemeinschaftlichen Anstehen um Karten, nach gemeinschaftlichem Respekt für die Mitwirkenden des australischen Back to Back Theatre beispielsweise. „Neuronal diverse“ Spielerinnen und Spieler stellten ihr Publikum vor die Vision: Die Künstliche Intelligenz wird aus sogenannt normal Begabten genau das machen, was sie bereits heute sind. Falsch, ungenügend, kognitiv beeinträchtigt, weil der KI unterlegen.
Gemeinschaftlich erlebt man Europapremieren aus Kuba (Martha Luisa Hernández Cadenas: „No soy unicornio“), aus Argentinien (erstmals in Europa, Tiziano Crux: „Soliloquy“) und Island (Ragnar Kjartansson mit der Performance „Schmerz“). Und gemeinschaftlich begeisterte man sich für den künstlerischen Höhepunkt, den selbstironischen, humorvollen Kraftakt der französischen Künstlerin Phia Ménard, „La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe)“. Als Punk-Amazone errichtete sie ihren Athener Parthenon – aus Karton.
Und man lechzte wieder nach partizipativen Aktionen wie der Vergabe eines Publikumspreises. Er ging an die Mitwirkenden des Ishyo Arts Center in Ruanda gemeinsam mit dem Théatre du Papyrus in Belgien für die Produktion „The Children of Amazi“ („Kinder des Wassers“). Das Kindertheater zum Thema Wasserknappheit, das im Mai 2019 Premiere hatte, war eine der anrührenden Produktionen, klein, zärtlich, doch getränkt von einer enormen Kraft der Utopie.
Wasser, das Bewusstsein für diese Ressource war auf dem wunderbaren Gelände direkt am Zürichsee – und auf einer vorgelagerten Saffa-Insel – selten so groß. Nicht nur die Beteiligten aus Ostafrika erzählten davon; auch das Dokumentarstück „Out oft the Blue“ über den Rohstoffabbau in der Tiefsee der Brüsseler Silke Huysmans & Hannes Dereere thematisierten im Umgang mit Wasser die Fragilität der Welt. Das bedrückende Stück über Deep Sea Mining war eine Koproduktion und zeichnete aus, was das diesjährige Festival an Besonderem an sich hatte: Das Theater Spektakel in seinem 43. Jahrgang zeigte seinen Einfluss und sein Gewicht als internationale Koproduzentin. Die Koproduktion „Please Stand“ der Australierinnen Samara Hersche & Lara Thoms über die Bedeutung von Nationalhymnen hatte am Theater Spektakel seine Uraufführung und begann dann seine Tournee.
Am Festival unter der künstlerischen Leitung von Matthias von Hartz kamen schließlich gleich zwei ortsspezifische Produktionen zustande, die beide ordentlich viel wagten, und schließlich auch viel gewannen. Das Publikum saß auf dem See – auf einem je nach Wind und Wetter sanft oder hektisch schaukelnden Ponton – und sah dabei zu, wie Schauspielerinnen und Schauspieler quasi über Wasser gingen. Als ob man nicht immer geahnt hätte, dass Kunst Menschen von aller Erdschwere entheben kann.
Die Choreografin Meg Stuart und die lokale Company The Fields zeigten im See einen Abend, der sich „Waterworks“ nennt. Man konnte den Tänzerinnen und Tänzern dabei zusehen, wie qualvoll es für unsere Vorfahren gewesen sein muss, sich vom Wasser aus das Land zu erobern. Nicht immer schien es sinnig, ob die Anstrengung sein müsse oder doch lieber nicht. Jedenfalls war man erleichtert, dass die zweite Produktion, die sich im Wasser verausgabte, weit poetischer und zwingender war. Die litauische Künstlerin Lina Lapelyté hatte sich dafür auch die schönste Frage des Festivals ausgedacht. „What happens with a dead fish?“. Der Gesang über den Wassern, der solche Fragen stellte, evozierte Bilder, die sich unter die Haut brannten. Und als das Floß mit Lapelytés Wassergeschöpfen schließlich in die Nacht hinaus entschwand – ein konturloser Haufen Gestrandeter auf unsicherem Grund – und im Hintergrund das glitzerte, was man in Zürich „Goldküste“ nennt, war das entscheidende Bild geprägt: Jetzt gerade steuern Menschen auf Meeren wie Treibholz ins Nichts. Möglicherweise sind es auch wir. //