Theater der Zeit

Inszenierungen

Weimarer Zeitgeschichten

Neue Stücke von Thomas Freyer und Dirk Laucke legen am Deutschen Nationaltheater Weimar Gegenwart über die Vergangenheit

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Sprechtheater Dramatik Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar

Bei Laucke meint „Hannibal“ die Gruppe, die Kameradschaft, das Netzwerk: Bastian Heidenreich, Martin Esser, Marcus Horn, Fabian Hagen, Anna Windmüller in der Inszenierung von „Hannibal“ von Dirk Laucke am Deutschen Nationaltheater Weimar
Bei Laucke meint „Hannibal“ die Gruppe, die Kameradschaft, das Netzwerk: Bastian Heidenreich, Martin Esser, Marcus Horn, Fabian Hagen, Anna Windmüller in der Inszenierung von „Hannibal“ von Dirk Laucke am Deutschen Nationaltheater WeimarFoto: Candy Welz

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Von keinem Standpunkt aus zu überblicken, sowieso kaum zu durchschauen, immer nur Teile und Details vor Augen: Derart wird ein Rundbild zur Geschichte zum Sinnbild der Geschichts­betrachtung. Und derart eignet sich eine 1722 Quadratmeter ­große Leinwand als Knitterfolie für die Gegenwart.

„Feindliche Übernahme der Zeit“ nennt das Thomas Freyer im „Treuhandkriegspanorama“, das er über Werner Tübkes ­Bauernkriegspanorama legt, ohne beide deckungsgleich werden lassen zu wollen. Was nicht passt, wird auch nicht passend gemacht. Freyers zweiter Versuch im poetisch verdichteten Dokumentartheater, nach „Stummes Land“ in Dresden (siehe TdZ 10/2020), interessiert sich für die Inkongruenz.

Tübkes 1987 vollendetes monumentales Tafelbild, mit eigenem Museumsbau in Bad Frankenhausen am Kyffhäuser, war ein Auftragswerk der DDR-Regierung: „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ geheißen, entsprechend der linearen marxistischen Geschichtsschreibung, die auch Thomas Müntzer zum gesetz­mäßigen Vorkämpfer des Sozialismus erklärte.

Freyers Stück ist auch ein Auftragswerk: fürs Deutsche ­Nationaltheater in der Klassikerstadt Weimar, dessen Schauspiel seit Beginn der Intendanz Hasko Webers 2013 alles in allem über vierzig Uraufführungen besorgte und dabei mit wachem Blick ­einigermaßen konsequent eine gegenwartsdramatische Linie zur Zeitgeschichte verfolgt. Freyers Text konterkariert dabei bemerkenswert zufällig und gewiss unabsichtlich auch Kathrin Rögglas „Bauernkriegs­panorama“: einen Essay der Prosa-, Theater- und Hörspielautorin von 2020, aus dem fürs Radio ein „monumentales Gesellschaftsporträt“ wurde. Diese ihre Bildbeschreibung beginnt so: „Es bräuchte ein neues ,Bauernkriegspanorama‘, heißt es jetzt immer wieder angesichts der Wahldebakel im Osten, eine für die Rettung frühbürgerlicher Revolutionen geeignete Bildkomposition (…) Für so ein monumentales Panorama kann es heute allerdings keinen öffentlichen Auftrag mehr geben, allenfalls einen, der immer schon aus einer falschen Vergangenheit kommt …“

Falsche Vergangenheiten nimmt Thomas Freyer nicht nur in Kauf, er beschwört sie nahezu listig herauf und legt sie frei: als den „Einfall der Wendejahre in Müntzers Jahrhundert“. Er hebt ab auf die abseitige Figur Müntzers in Tübkes Gemälde, der die Bundschuhfahne in der Hand bereits sinken lässt, und trägt diese so vom Schlachtberg bei Bad Frankenhausen, auf dem der Bauernkrieg 1525 final scheiterte, siebzig Kilometer weiter westwärts: nach Bischofferode im Eichsfeld sowie ins dort Ende 1993 geschlossene Kaliwerk, dem die DDR den Namen „Thomas Müntzer“ verpasste.

Hier ereignete sich vergeblich ein bundesweit verfolgter, aber in lokalen Schächten steckengebliebener Arbeitskampf nebst Hungerstreik. Es ging um Marktbereinigung zugunsten des ­Westens, hier der hessischen Kali und Salz AG; der von der Treuhandanstalt verwaltete Ostbetrieb arbeitete keineswegs rentabel, wäre aber eventuell doch zu sanieren gewesen.

Die Lage damals, aus der ein Trauma wurde, war und blieb so unübersichtlich wie ein Bauernkriegspanorama. Jedoch: „Was in den Köpfen bleibt, sind die heldenhaften Kalikumpel. Ihr ward nur ein Beispiel. Und kein gutes, wenn du mich fragst.“ So spricht, bald dreißig Jahre später, ein Sohn zu seinem Vater. Der liegt im Koma und ist mithin jetzt erst recht, was er längst schon war: nicht ansprechbar für seine Familie. Erst vergrub er sich mit den Kumpeln mit Tunnelblick im Arbeitskampf, danach bis zum jüngsten Tag ins Bergwerk der Akten und Dokumente darüber.

Dorthin steigt ihm der Sohn jetzt gleichsam nach, um zu verstehen, dort imaginiert er sich den immer schon Abwesenden neu herbei: „Ich baue mir einen Vater im Berg, der spricht und lacht, der redet, fragt, antwortet.“ Geisterhaft greifen historisch gewordene Figuren ins (Selbst-)Gespräch ein: Gerhard Schürer von der DDR-Planungskommission, der für Bergbau zuständige Treuhandvorstand Klaus Schucht oder Kanzler Helmut Kohl. Sie malen alle ein bisschen mit am großen Panorama gleichberechtigter Wahrheiten, das Freyer formal in eine Collage der Textformen übersetzt: ein durch die Zeit mäandernder innerer Monolog, beinahe klassisch zu nennende Dialoge, Dokumententheater mit Originalzitaten, auch eine Szene wie eine Heiner-Müller-Parodie. Ein kunstvoll angeordnetes Chaos der Stimmen.

Dabei ist dieses Stück gar nicht so leicht zu ertragen. Es verweigert die ostdeutsche Opfererzählung. Dem Nachwendejammer „So haben wir uns das aber nicht vorgestellt“ stellt er die eigene Verantwortung für die Marktbereinigung entgegen: „Ein Land wird zum Beitrittsgebiet und die meisten in diesem Land wollen genau das (…) alles muss im Überfluss vorhanden sein, alles muss so werden wie es noch nie war und nie gewesen ist, auch nicht auf der anderen Seite der Werra.“

Das muss auf offener Bühne wohl einmal gesagt sein.

Dem Stück lässt sich allerdings kaum voraussetzungslos begegnen. Es verlangt ein gewisses Insider-Interesse und scheint sich weniger an Nachgeborene zu richten. Doch genau mit ­solchen hat Regisseur Jan Gehler die Uraufführung im Weimarer E-Werk besetzt: Fünf Schauspieler, die 1990 und danach zur Welt kamen, sind chorisch sowie im Wechsel der Sohn, aber auch alles andere; den dicken Kohl spielen sie zu dritt. Hier greift, mit zunehmender Wucht, bereits die nächste Generation tief in alte, schlecht verheilte Wunden, die zwar nicht die ihrigen sind, deren Narben sie aber zu spüren bekommt wie einen Phantomschmerz. Die Distanz ist zunächst spürbar. Sie müssen sich ganz schön aufplustern, um diese Geschichte zu behaupten. Man beginnt sich schon nach deutlich älteren Gesichtern zu sehnen, einmal abge­sehen von Rosa Falkenhagen, der einzigen Frau im Ensemble, die eine brüchige Biografie ein- und ausatmet, wenn sie in die Mutterrolle schlüpft. Marcus Horn hingegen ergeht es als Vater wie dem Sohn im Stück: Er kriegt ihn nicht zu fassen. Die Rolle gerät ihm ganz äußerlich.

Bald aber eignet sich das Quintett – auch Martin Esser, Fabian Hagen und Janus Torp – den Abend zusehends mit großer Spielwut im Bauch an, erobert sich das Panorama im fliegenden Wechsel der Szenen, Figuren und Spielweisen. Die Falkenhagen bleibt dabei prima inter pares, was gewiss nicht so angelegt war; es geschieht einfach.

Jan Gehlers bildmächtige, ideenreiche und übrigens sehr unterhaltsame Inszenierung kann auf dreißig große Spielelemente bauen – und mit ihnen auch: Bühnenbildnerin Sabrina Rox hat ­Papierschnipselpakete geschnürt und eingeschweißt, als kämen alle Treuhandakten soeben aus dem Reißwolf. Aus ihnen wird eine Mauer, auf die sich das Tübke-Panorama projizieren lässt und in deren Aussparungen und Hohlräumen die Figuren Unterschlupf finden. Ein riesiges Sofa oder ein Tetris-Spiel werden auch daraus, ein Kali-Schacht oder eine Abraumhalde. Das wandelt sich leicht, ist aber so schwer zu händeln wie die unbewältigte Vergangenheit.

Nach sechzehn Jahren (und inzwischen vierzehn Stücken) ist Thomas Freyer damit nach Weimar zurückgekehrt. Tilmann Köhler brachte hier damals dessen Erstling „Amoklauf mein Kinderspiel“ zur Uraufführung, ein Stück zur Nachwendegeneration, sowie andernorts weitere seiner Texte. Für Jan Gehler ist das, nach Dresden und Düsseldorf, jetzt auch schon die dritte Freyer-Inszenierung. Alle kennen sich aus der TheaterFABRIK, einem außergewöhnlichen Jugendclub in Gera; der Weimarer Dramaturg Carsten Weber gehörte ebenfalls dazu.

Gehler wiederum inszenierte mehrfach auch Dirk-Laucke-Stücke, allerdings noch nie in Weimar, wo sie nun bereits zum fünften Mal einen Text des Dramatikers spielen. „Hannibal“ ist, als Auftragsstück, ein Beitrag zum Theaterprojekt Kein Schlussstrich!, das sich zum zehnten Jahrestag der NSU-Enttarnung auf fünfzehn Städte erstreckte. „Hannibal“ wurde parallel auch von Bojana Lazic in Freiburg uraufgeführt.

In Weimar läuft es ebenfalls im E-Werk. Auch unter diesem Stück liegt eine Folie: Horváths Soldatenroman „Ein Kind unserer Zeit“ (1938). Laucke übermalt ihn vor dem Hintergrund eines rechtsextremen Untergrunds: Bundeswehr-Soldat André S., wie Laucke aus Halle/Saale stammend, gehörte zum Kommando ­Spezialkräfte (KSK). Als „Hannibal“ administrierte er die Chatgruppe aktiver und ehemaliger Angehöriger von Bundeswehr, ­Polizei und Verfassungsschutz, die Anschläge plante. Sein Name bezog sich auf den Anführer in der US-Serie „Das A-Team“.

Bei Laucke meint „Hannibal“ die Gruppe, die Kameradschaft, das Netzwerk: „Jeder Einzelne von uns ist nur einer von vielen.“ Der Einzelne, Soldat Rico, geht darin auf – und unter. Sein Schauspieler (Marcus Horn) wird zum Rekruten der Inszenierung von Sebastian Martin, wie auch die anderen Soldaten (Fabian Hagen, Bastian Heidenreich, Martin Esser).

Laucke hält sich an die Vorlage, überträgt sie aber unter ­umgekehrten Vorzeichen in seinen Rahmen: Aus der Geschichte subkutaner Deradikalisierung in der Diktatur wird die einer Radikalisierung in der Demokratie, aus der Emanzipation vom Vaterlandsbegriff die Unterwerfung darunter, aus einer Menschwerdung die Entmenschlichung. Dabei ist der Scheitelpunkt der gleiche: „Ich mag keine Seele leiden – auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle.“

Hier sollen sich, anders als bei Freyer, zwei Geschichten passgenau decken. Beide gehen lieber: in Deckung. Das hat eine gewisse Logik, aber wenig Reiz. Das Wie wird interessanter als das Was: Martins Weise, den Text zu bebildern, auf einer Gitterrost-Schräge vor dreiteiliger Videowand (Bühne: Alexander Grüner), mit virtueller Realität und Live-Kamera (Bastian Klügel). Robert Schumanns „Kinderszenen“ geben den Ton vor, nicht erwachsen werden zu wollen: Die „Träumerei“ begleitet Schießübungen, „Von fremden Ländern und Menschen“ den Spezialeinsatz am Hindukusch.

Es sind die Einzelnen und Vereinzelten, die diesem Privatkriegspanorama Kontur verleihen: Anna Windmüller als Ricos linksliberale Mutter, Philipp Ottos aufrechter Hauptmann, der als Kameradenschwein gilt. Die feindliche Übernahme der Zeit indes wird hier nicht zum Thema, sondern nur zur Methode. //

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