passionsspiele oberammergau
Mit dem Glauben an die Kraft des Theaters
Christian Stückl gelingt die Oberammergauer Passion als Kunststück
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Akteure Sprechtheater Theaterkritiken Bayern Christian Stückl Passionstheater Oberammergau

Dem Auferstandenen hat er seinen Auftritt gestrichen. Zum insgesamt vierten Mal hat Christian Stückl nun die weltberühmte Passion in seinem Heimatort Oberammergau inszeniert und sie dabei über die Jahrzehnte Schritt für Schritt modernisiert, entstaubt, professionalisiert. An einer ehernen Tradition hatte aber auch Stückl bisher stets festgehalten: Am Ende des Passionsspiels zeigte sich Jesus den Frauen am Grab, seinen Aposteln und damit auch dem Publikum – in blütenweißem Gewand und strahlendem Licht. Woraufhin allesamt im Angesicht des Auferstandenen ein letztes, die Vorstellung beschließendes Halleluja anstimmten.
Dieser finale Auftritt war nicht nur eine sportliche Heraus- forderung für den Jesus-Darsteller, der nur wenige Minuten hatte, um sich Bühnenblut und Grind von der Kreuzigung abzudu- schen, um sodann frisch geföhnt vor die Schar seiner Anhänger zu treten. Spielleiter Christian Stückl empfand die Schlussszene in ihrer Jesus-Christ-Superstarartigen Kitschigkeit auch künstlerisch als Zumutung.
Bei der Passion 2022 hat Jesus deshalb nun erstmals schon nach der Kreuzigung Feierabend. Das Halleluja am offenen Grab wird ohne ihn gesungen, die Auferstehung nicht mehr mit seiner Präsenz beglaubigt. Stattdessen werden Kerzen an einer Feuerschale entzündet, das Licht, das lumen christi, wird weitergetragen und erhellt die Nacht. Wer schon einmal einen katholischen Auferstehungsgottesdienst an Ostern erlebt hat, ist mit dieser Symbolik vertraut.
Kein Auferstandener also auf der Bühne mehr. Na und? Im Theater ist es ja nun wahrlich nicht unüblich, dass Szenen gestrichen und Stück-Enden umgedeutet werden. Wäre die Oberammergauer Passion ein normales Drama, Jesu Erscheinen als Auferstan- dener wäre so etwas wie der Auftritt eines deus ex machina in eigener Sache. Derlei wunderbare Errettungen wider alle Wahrscheinlichkeit stehen im zeitgenössischen Theater unter Generalverdacht und werden nahezu unfehlbar gestrichen oder zumindest ironisiert. Die Passion ist ihrem Ursprung nach aber eben kein gewöhnliches Theater, sondern: Glaubensbekenntnis. Insofern ist die Tragweite von Stückls Entscheidung, dieses Bekenntnis nun zu verweigern, kaum zu überschätzen. Indem er Jesus am Ende nicht mehr zeigt, überlässt es der Regisseur dem Publikum, ob es an diese Auferstehung glauben will oder nicht. Dieser mutige Schritt ist eine Art Schlussstein der Entwicklung, die Stückl bei seiner ersten Passion 1990 angestoßen und seither konsequent weiter vorangetrieben hat: weg von der Theologie, hin zum Theater.
Wäre Stückl Fußballer, er würde zu den sogenannten Straßenkickern zählen. Der heute 60-Jährige, im Hauptberuf Intendant des Münchner Volkstheaters, hat nie eine Akademie oder Regieschule besucht. Seine Leidenschaft fürs Laienspiel Passion führte ihn ins professionelle Theater. Und von da wieder zurück nach Oberammergau, wo er es als Passionsspielleiter zwar weiter mit Amateurdarstellern zu tun hat, die er aber mit dem künstlerischen Anspruch eines Profis fordert, dem es nicht um das Nachbeten der Tradition geht, sondern um die Befragung einer uralten Geschichte aus heutiger Sicht. Vergegenwärtigung statt Verkündigung.
Die Leidensgeschichte Jesu, wird Stückl nicht müde zu erklären, interessiere ihn nur am Rande. Er begeistert sich für Jesu Leben. Und vor allem: für das, wofür er lebte. Und so zeigt Stückl Jesus nun als Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit, der die Armen seligpreist und den Hohepriestern mit geradezu heiligem Zorn die Leviten liest, ob deren bigotter Gleichgültigkeit gegenüber den prekären Umständen, in denen das einfache Volk lebt. Die heute viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich – auch im Neuen Testament ist sie bereits Thema. Die entsprechenden Texte aus der berühmten Bergpredigt (eigentlich an ganz anderer Stelle im Evangelium zu finden, sozusagen in der Vorgeschichte) hat Stückl ins Passionsgeschehen hineinmontiert.
Über 100 Mal führen die Oberammergauer ihre Passion zwischen Mai und Oktober auf. Alle Hauptrollen sind doppelt besetzt. Bei der Premiere 2022 war Frederik Mayet (der die Rolle bereits 2010 spielte) als Jesus zu erleben und gab dabei nicht das lammfromme Leiden Christi, sondern einen charismatischen Christus – mit erstaunlichem Aggressionspotenzial für einen, der bedingungslose Nächstenliebe predigt. Nur verständlich, dass sich an diesem hitzigen Heiland die Revolutions-Fantasien eines Heißsporns wie Judas entzünden. Premieren-Judas Cengiz Görür ist von bestechender Bühnenpräsenz als enttäuschter Jünger, der gehofft hatte, Jesus würde Israel vom Joch der Römer befreien. Görür, nebenbei bemerkt, ist erst 20, erster Muslim in der Geschichte des Dorfes, der mit einer Hauptrolle betraut ist, und hat image inzwischen die Aufnahme-Prüfung an der Münchner Otto- Falckenberg-Schauspielschule bestanden. Noch so ein Passionsbegeisterter, den es ins Profilager drängt.
Wenn Jesus radikalpazifistisch dem bewaffneten Widerstand eine Absage erteilt, den Judas so vehement einfordert, schwebt plötzlich die gegenwärtige Weltlage über dem biblischen Geschehen, ohne dass dabei von Debatten um die Lieferung schwerer Waf- fen in die Ukraine die Rede sein müsste. Das ginge auch gar nicht in der Passion, die bei aller Modernisierung durch Stückl optisch historisierend bleibt. Ausstatter Stefan Hageneier, seit 2000 an Stückls Seite, hat das Ensemble in fahle Farben gekleidet. Trug das Volk 2010 noch taubenblaue Gewänder, so herrschen diesmal Beige-, Braun- und Grautöne vor. Der Gesamteindruck dadurch: düster, fast dystopisch. Eine Welt, an der man verzweifeln kann, wie an der unsrigen. Im Kontrast dazu: die sogenannten lebenden Bilder – tableaux vivants, die Momente aus dem Alten Testament zei- gen, die in Beziehung zur Passionsgeschichte stehen. So korres- pondiert beispielsweise der Tanz der Israeliten ums Goldene Kalb und die Vertreibung der Händler durch Jesus aus dem Tempel; oder der Opfertod des Gottessohns am Kreuz und Abrahams Beinah-Opferung seines Sohnes Isaak. In den Kulissen und Kostümen dieser „lebenden Bilder“ dominieren Rot, Blau und Gold. Sie wirken, als hätte man Inventar und Altarfiguren aus den umliegenden Barockkirchen ausgeliehen und zu den Tableaus gruppiert.
Kommentiert werden diese Bilder von Gesängen des Passions-Chors, der nicht wie früher weihevoll in priesterähnlichen Messkleidern auftritt, sondern in stilisiert bäuerlicher Kluft in strengem Schwarz-Weiß – wodurch die Chormitglieder an die Dorfbewohner denken lassen, die 1633 das Pestgelübde ablegten, auf das die Oberammergauer Passion zurückgeht. So schaffen Stückl und Hageneier einen neuen Rahmen für die Haupthandlung, die natürlich auch großes Sandalenfilm-Theater auf der Cinemascope-breiten Bühne des Passionstheaters ist, mit gewohnt souverän arrangierten Massenaufläufen in den Volksszenen. Wenn Jesus unter dem Jubel der Menge Einzug nach Jerusalem hält, aber auch, wenn seine Feinde wie Freunde vorm römischen Statthalter Pilatus lautstark seine Kreuzigung respektive Freilassung fordern, ist das von überwältigender Wimmelbild-Wucht.
In Summe: ein Theaterereignis, bildmächtig und gedankenstark. Aber aus theologischer Sicht? So ganz ohne den Auferstandenen seines religiösen Kerns beraubt? Mitnichten. Die Antwort gibt die Bibel. Genauer: die Geschichte des Apostels Thomas, der die erste Begegnung der übrigen Jünger mit Jesus nach dessen Kreuzestod verpasst und prompt am Bericht seiner Gefährten zweifelt. Jesus höchstpersönlich rüffelt Thomas später, nicht die Sehenden, sondern die Glaubenden seien selig. Welcher Theologe wollte da noch auf Jesus’ finalem Auftritt in der Passion bestehen und sich so als der sprichwörtlich „ungläubige Thomas“ outen?
Christian Stückl hat eine Passion inszeniert, die dazu geeignet ist, den Glauben an die Kraft des Theaters zu stärken. Wer überdies an die Erlösung glaubt, sollte auch ohne Bestärkung durch den Auftritt des Auferstandenen auskommen. Stückl ist kein Theologe, aber längst so bibelkundig, dass er etwaige theologische Kritiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen weiß. Das ist das immense Kunststück, das ihm mit der Passion 2022 in Oberammergau gelungen ist: das Theater aus den Fängen der Religion zu befreien, ohne deren Spielregeln zu verletzen. //