Auftritt
Staatstheater Kassel: Die Liebe in Zeiten des Postkolonialismus
„Vor die Hunde“ (UA) von Nora Mansmann – Regie Sarah Franke, Choreografie Gili Goverman, Bühne Ann-Christine Müller, Kostüme Isabell Heinke
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Die deutsche Sprache, sagt die Brasilianerin, klinge für sie wie Hundegebell: „Auch, auch, auch.“ In diesem kalten Land fühlt sie sich nicht willkommen. In Rio de Janeiro, klagt die Deutsche, nerve das pausenlose Gebell der Straßenhunde. Wohl auch, weil es mahnend daran erinnert, dass die Tiere hier mit armen Menschen um den Müll auf der Straße konkurrieren. Bester Freund des Menschen? Vergiss es. In Nora Mansmanns postkolonialer Theatercollage „Vor die Hunde“, die zum Spielzeitauftakt am Kasseler Staatstheater uraufgeführt wurde, stehen die titelgebenden und leitmotivisch auftretenden Vierbeiner für Feindseligkeit und Elend. Und für eine Vergangenheit kolonialer Ausbeutung und Herablassung, die noch immer nachwirkt. Bis ins Privateste.
Rosa (Zazie Cayla) und Marlene (Katharina Brehl) lernen sich beim Studium in Deutschland kennen, werden ein Paar. Rosa ist Deutsche, Marlene kommt aus Brasilien. Rosa ist politisch eher unbedarft, Marlene eine Aktivistin, die sich unablässig mit dem Weltgeschehen auseinandersetzt. Was Rosa „Doomscrolling“ nennt, gilt Marlene als nackte Notwendigkeit: Den Luxus des Wegduckens könne sich nur leisten, wer nicht aus dem privilegierten Norden komme. Erst lebt das Paar in Deutschland, dann versuchen sie es in Brasilien. Doch die Konflikte wachsen.
Dass Nora Mansmann in ihrem Auftragswerk für das Kasseler Staatstheater die Geschichte dieser deutsch-brasilianischen Liebesbeziehung erzählen würde, stimmt allerdings nur zum Teil. Als Ausgangspunkt nimmt sie Hans Staden, einen nordhessischen Landsknecht, der im 16. Jahrhundert mit portugiesischen und spanischen Kolonisatoren nach Brasilien fuhr. Sein Buch, in dem er sich mit schwer überprüfbarem Wahrheitsgehalt über seine angeblichen Erlebnisse bei den „Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen“ ausließ, prägte den europäischen Blick auf das südliche Amerika.
Mansmann konfrontiert die Liebesgeschichte von Rosa und Marlene aber auch mit den Erinnerungen späterer deutscher Auswanderer:innen. Zitiert koloniale Propaganda und Verklärung. Und sie führt in Person einer heutigen Auswanderer:in vor, wie Ungerechtigkeiten und Klischees fortleben, im Gewand des Exotismus. Rita (Annett Kruschke) schwärmt von Samba und Sonnenschein, von Caipirinha und Copacabana – und verschwendet keinen Gedanken daran, wie es kommt, dass sie mit ihrer deutschen Rente in Brasilien „wie im Paradies“ leben kann.
Hin und her durch die Jahrhunderte geht es, es geht um Migration und Heimat, um Flucht und Rassismus, um Armut und kulturelle Aneignung, um Homophobie und irgendwann sogar noch um den Klimawandel und seine Leugnung. Das ist viel. Und man muss leider sagen: Es ist zu viel. Aus dem Nebeneinander, das einer Collage definitionsgemäß eigen ist, wird auch durch die Inszenierung kein echtes Miteinander. Sarah Franke, ab der kommenden Spielzeit Schauspieldirektorin in Kassel, hat das Stück für die Uraufführung bearbeitet und zusammen mit der Choreografin Gili Goverman und der Bühnenbildnerin Ann-Christine Müller auf die Studiobühne gebracht. Und wie im vergangenen Jahr, als das Trio hier bereits bei der Uraufführung von Sina Ahlers’ „Milch & Schuld“ zusammenarbeitete, gibt es eine Menge zu sehen.
Im Bühnenhintergrund treibt das gezeichnete Segelschiff von Hans Staden auf gezeichneten Wellen, davor wechselt der Dschungel der Großstadt mit dem Dschungel des Regenwalds, beides so farbintensiv wie die grellbunten Kostüme (Isabell Heinke). Obwohl der Text eher schlaglichthaft als erzählerisch ist, mangelt es auf der Bühne nicht an Action. Mal verfallen die Schauspieler:innen in roboterhafte Bewegungen. Mal heften sie sich gegenseitig auf Papier gezeichnete Kostüme an, als seien sie Comicfiguren. Mal schieben sie mit viel Mühe und Geschrei große kubistische Hundeköpfe auf die Bühne. Gut sieht das aus. Aber die Idee, die all dem zugrunde liegt, will sich nicht so recht erschließen. Optik first, alles weitere second. Auch das erinnert an „Milch & Schuld“.
Unrund wirken Stück und Inszenierung, und das nicht im positiven Sinne von Ecken, Kanten und Spitzen. Ihre stärksten Momente hat die Inszenierung, wenn sie leise wird. Wenn Sarah Franke dem Spiel ihres Ensembles vertraut, wie bei der ersten zarten Annäherung von Rosa und Marlene, unsicher und ungelenk. Aber diese Momente sind selten. Musik, live gespielt mit E-Gitarre und Elektronik von Felix Thewanger, der auch sämtliche Männerrollen übernimmt, begleitet fast durchweg das Geschehen, deckt es manchmal auch zu. So enervierend wie Hundegebell in Rio de Janeiro, womöglich.
Erschienen am 30.9.2025