Auftritt
Landestheater Linz: Vor mir stehen sechs Millionen Ankläger
„Eichmann vor Gericht“ nach historischen Prozessunterlagen in einer Fassung von Wiebke Melle, Andreas Erdmann und Peter Wittenberg – Regie Peter Wittenberg, Kostüme Marie-Luise Lichtenthal, Rauminstallation Florian Parbs, Sounddesign Wolfgang Schlögl
von Lina Wölfel
Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Dossier: Politische Konfliktzonen Peter Wittenberg Landestheater Linz

Kann man den Charakter eines Schauspielers anhand der von ihm verkörperten Rolle bewerten? Wohl kaum. „Adolf Eichmann jedenfalls, spielte die Rolle seines Lebens.“ Eine Rolle, die er so überzeugend verkörperte, dass selbst versierte Denker:innen wie Hannah Arendt in ihm „lediglich“ die „Banalität des Bösen“ sahen.
Als Leiter des sogenannten „Judenreferats“ plante Adolf Eichmann die infrastrukturelle Logistik der Verfolgung, Deportation und Vernichtung von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus. Er war maßgeblich an der Wannseekonferenz 1942 beteiligt, in der die „Endlösung der Judenfrage“ koordiniert wurde, die letztlich zur Ermordung von sechs Millionen Menschen führte. Wie viele andere NS-Täter konnte auch er sich nach Kriegsende über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika absetzen. Erst seine Entführung aus Argentinien ermöglichte es, ihn für seine Verbrechen vor Gericht zu stellen. Der Prozess, der 1961 in Jerusalem unter großer internationaler Aufmerksamkeit begann, brachte Eichmanns Versuch ans Licht, sich als unbedeutendes Rädchen in einem übergeordneten System darzustellen. Tatsächlich jedoch versuchte Eichmann vor allem, seine Überzeugungstäterschaft bis zuletzt zu verschleiern.
Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sitze ich mit gut 120 anderen Besucher:innen im Schwurgerichtssaal des Linzer Landesgerichts. Linkerhand ist ein angedeuteter Glaskubus aufgebaut, geradeaus Unmengen Bildschirme, auf der rechten Seite einige Stühle mit plissierten Roben und Aktenstapeln. Über allem prangt in Hebräisch: „בית המשפט“ – „das Gericht“.
Auf Grundlage historischer Protokolle werden in den folgenden zwei Stunden Teile des Verfahrens gegen Eichmann szenisch rekonstruiert. Als wissenschaftlicher Berater fungierte der Historiker und Autor Doron Rabinovici. Gerichtsdramen können bekannterweise langatmig sein, und auch wenn das Verhandelte noch so relevant ist, bleibt schon allein aufgrund der steifen Sitzordnung selten Raum für innovative Inszenierungs- und Spielmomente. In Linz gelingt es Wiebke Melle und Andreas Erdmann – Dramaturg:innen des Linzer Landestheaters – sowie dem Regisseur Peter Wittenberg jedoch, die zigtausenden Aktenseiten aus 121 Verhandlungstagen so zu destillieren, dass ein dynamischer und vor allem gnadenloser Abend entsteht.
Dabei ist die gesamte Geschichte an Zynismus auf Verteidigungsseite mitunter kaum zu überbieten. Eichmanns Anwalt eröffnet, indem er in den Raum stellt, das Gericht könne ja befangen sein – schließlich sei es nicht ausgeschlossen, dass jemand Angehörige im Holocaust verloren habe. Im Folgenden stellt sich Eichmann (Sebastian Hufschmidt) als kleines Rädchen im Getriebe dar, einer, der nur Befehle befolgt hat. Seine Parteimitgliedschaft? Zufall. Der Vater eines Freundes habe ihn einfach mal mitgenommen – so war das damals. Sein erster Besuch in Treblinka? Viel zu viel für die zarte Seele Eichmann. Er habe danach gesagt, das sei ja schrecklich, die jungen Menschen, die dort arbeiten, müssten ja unweigerlich zu Sadisten werden. Auf die wiederholte Frage, wie viele Jüd:innen von ihm nach Auschwitz geschickt worden seien, antwortet er zunächst, dass die Erstellung von Transportplänen nicht ihm oblag. Später dann: „Herr Hauptmann, ich habe gelesen, dass Höß gesagt haben soll, er habe vier Millionen Juden getötet. Ich hielt diese Zahl bisher für übertrieben hoch. Aber wenn wir jetzt von Zahlen überhaupt sprechen wollen: Ob das eine Million ist oder ob das vier Millionen sind, ob das hundert sind, das ist ja im Prinzip egal.“
Vor den beiden Staatsanwält:innen (Klaus Müller-Beck, Theresa Palfi) und vor allem der Richterin (Katharina Hofmann) gibt es kein Entkommen. Die leisten sich nicht allzu viele Gemütsregungen, stellen den scheinbaren Unschuldsmanövern in verklausuliertem Bürokratendeutsch harte Fakten entgegen. Ein zentrales Element des Prozesses und damit auch der Aufführung sind auch die Sassen-Dokumente. Darin zeichnet Eichmann ein anderes Bild von sich: er wäre zufriedener gewesen, wenn zehn statt sechs Millionen Juden ermordet worden wären. Seine überzeugte antisemitische Haltung wird auch deutlich, als ihm nachgewiesen werden kann, dass er die maßgebliche Idee zu den Todesmärschen von Auschwitz nach Wien hatte und sich damit sogar über Himmler selbst hinwegsetzte.
Dass für Eichmanns Inszenierung – vom permanenten Lippenbenetzen und Brillentauschen bis zu dem stets perfekt sitzenden Anzug und der ausgefeilten Rhetorik – kein Schlupfloch bleibt, ist in Zeiten, in denen antisemitische und migrationsfeindliche Argumentationen in Familien und auf der Weltbühne grassieren, relevanter denn je. Gegen die Statik des Abends hilft auch ein inszenatorischer Kniff: als Tonbandmitschnitte inszenierte Interviews des israelischen Polizeihauptmanns Avner Werner Less (Jakob Kajetan Hofbauer) mit dem Angeklagten werden als Szene in der Szene integriert. Wichtigen Kontext liefert immer wieder Markus Ransmayr als Erzähler-Figur, der uns bei den Sprüngen durch Aktenseiten und Verhandlungstage hilft.
Das Böse erscheint in Linz also alles andere als banal. Es erscheint in Form perfider Rhetorik und gekonnter Geschichtsrevision durch die Täter:innen. „Eichmann vor Gericht“ ist allein deshalb schon mehr als eine performative Gerichtsverhandlung: es ist eine argumentative Übung gegen faschistische Rhetorik.
Erschienen am 26.9.2025