Thema
Müssen wir YouTube-tauglich werden?
Ein Gespräch zwischen den Generationen über die Theaterkritik der Zukunft
von Lina Wölfel und Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Debatte Theaterkritiken
Der Kritiker kommt aus dem Theater und spricht seine Eindrücke direkt in die Handykamera. Eine Minute lang, höchstens, dann wird gepostet. So funktioniert Theaterkritik online. Hat die klassische Rezension zwischen den schnellen, coolen Formen überhaupt noch einen Platz? Oder gehört sie zur Vielfalt der Stimmen unbedingt weiterhin dazu? Theater der Zeit startet im September eine Podcast-Reihe, in der Lina Wölfel (23) und Stefan Keim (54) miteinander diskutieren. Sie vertreten zwei Generationen und Erfahrungswelten. Später wollen sie andere Vertreter: innen aus dem Journalismus und der Theaterpraxis hinzuziehen. Doch beim ersten Mal unterhalten sie sich zu zweit über ihre Erwartungen an die Theaterkritik. Den kompletten Podcast gibt es auf www.theaterderzeit.de
Keim: Ich höre seit Jahrzehnten, dass die Theaterkritik dem Untergang geweiht sei und mit dem Bildungsbürgertum verschwinden wird. Warum stürzt du dich mit 23 in so eine anscheinend nicht besonders zukunftsträchtige Arbeit?
Wölfel: Erst einmal aus Liebe zum Theater. Ich hab ja vor drei Jahren angefangen, Theaterkritiken für Theater der Zeit zu schreiben. Ich hab zwar bisher nicht viel Geld damit verdient, aber immer Aufträge bekommen. Ich schreibe ja auch für die Hildesheimer Allgemeine Zeitung, und langfristig schreibende freie Mitarbeiter: innen werden gebraucht.
Keim: Ich arbeite viel für den WDR, und auch da werden junge Leute gesucht. Vielleicht hat dieser Mangel auch damit zu tun, dass man so lange gesagt hat, es gebe keine Zukunft. Aber dann gibt es doch noch eine Gegenwart. Es werden allerdings bei mir weniger Theaterkritiken angefragt und mehr Backgroundgeschichten, Probenreportagen, Porträts, Vorberichte, Formen, die weniger die Expertise des Kritikers brauchen.
Wölfel: Ich würde mich gar nicht in erster Linie als Theaterkritikerin bezeichnen. Ich sehe mich als Kulturjournalistin mit einer Spezialisierung auf die Kunstform Theater. Ich finde es spannender, nicht nur das einzelne Ereignis zu betrachten. Theater- und Kulturjournalismus produziert ja auch selbst Kultur und sorgt dafür, dass Kultur im Gespräch bleibt.
Keim: Da gibt es gar keinen Unterschied zwischen uns. Ich sehe mich auch als Kulturjournalist.
Wölfel: Ich wehre mich aber auch dagegen, Kritik als reine bürgerliche Selbstbefriedigung zu sehen. Theaterkritik soll historisch ausholen dürfen, aber die Leser:innen dürfen nicht auf der Strecke bleiben. Es ist ja auch wichtig zu schauen, für welche Zielgruppe man schreibt.
Keim: Ich stelle fest, dass eine gewisse Radikalisierung stattgefunden hat. Ich habe noch gelernt, erst einmal zu erzählen, worum es geht, Zusammenhänge herzustellen und die Leser:innen in die Lage zu versetzen, meine Kritik nachzuvollziehen. Dass sie mir vielleicht sogar widersprechen können. Heute sollen Kritiken sehr meinungsstark sein, möglichst schon im ersten Satz, Aufreger sein, schwärmen oder vernichten.
Wölfel: Aber war das jemals anders? Erinnere dich an die Herren Jhering und Kerr, denen keine Polemik fremd war. Der eine als Vertreter des Systems, der andere als Scharfrichter, der aber mit seiner Kritik auch eine eigene Kunstform geschaffen hat.
Keim: Die beiden gehörten ja zum Typus des Großkritikers. Aber so einer will ich gar nicht sein. Ich hab mal eine Premiere im Düsseldorfer Schauspielhaus für die Welt total verrissen. Das war ein Click-Hit im Online-Kulturteil, und mir wurde gesagt, so soll ich weiterschreiben. Das will ich aber nicht. Ich will abwägen, Facetten beschreiben, mich auch dieser schnellen Verwertbarkeit etwas entziehen. Du nicht?
Wölfel: Das kann ich so generell nicht sagen. Wenn ich zu einer Aufführung eine klare Meinung habe, darf die sich auch durch die ganze Kritik durchziehen. Die sorgfältige Begründung darf natürlich nicht fehlen. Da sind wir bei einem spannenden Punkt: Eine Theaterkritik ist ein sehr subjektiver Text. Objektivität gibt es nicht. Wie machst du diesen subjektiven Punkt für dich in deiner Kritik fest, welche Rolle spielt er für dich?
Keim: Das ist eine zentrale Frage, auch gerade bei den aktuellen Formen, den Videos, bei denen man sein eigenes Gesicht zeigt. Ich mach ja viel Radio, da bin ich mit meiner Stimme als Subjekt präsent. Aber ich bin ausgebildet worden, dass ich mich in meiner Subjektivität eher zurückhalte und versuche, so weit wie möglich von mir selbst zu abstrahieren, gerecht zu sein. Ich hab den Eindruck, viele jüngere Kolleg:innen haben weniger Skrupel, ihr Ego in den Vordergrund zu rücken.
Wölfel: Ich würde ganz klar trennen zwischen einem Ego und Voraussetzung. Ich muss mir dessen bewusst sein, durch welche Augen ich diese Aufführung sehe. Ich hab vor einigen Monaten in Hannover „Ein Mann seiner Klasse“ geguckt. Diese Inszenierung beschäftigt sich mit dem Arbeiter:innenmilieu. Jetzt komme ich da als studierte Person aus einem Bildungshaushalt, die nicht 21 Euro für die Karte zahlen musste. Die Hauptfigur, der wir auf der Bühne zusehen, hätte es sich nie leisten können, sich diesen Abend anzuschauen. Das kann ich nicht ignorieren. Man sollte seine eigene Person und seinen eigenen Blick permanent mitreflektieren. Für wen schreibst du eigentlich deine Kritiken? Für wen übernimmst du mit deinem Text Verantwortung?
Keim: Das finde ich eine wunderschöne Formulierung, mit dem Text Verantwortung zu übernehmen. Ich schaue oft und gerne ins Publikum, überlege mir, wer kommt, mit wem ich da so sitze. Mich interessiert der Applaus, auch die Frage, wie der Abend verkauft ist. Und wer nicht da ist. Es gibt ja Untersuchungen, dass die Wahrnehmung von Theater bei jüngeren Leuten zu über 90 Prozent über YouTube-Videos stattfindet. Müssen wir darauf reagieren? Müssen wir YouTube-tauglich sein, um noch jemanden außerhalb der Bubble zu erreichen?
Wölfel: Ich glaube, ja. Ich habe sehr viel Lust, mich über das Schreiben hinaus auszuprobieren. Das ist ja auch meine Aufgabe als Digitalredakteurin bei Theater der Zeit, das Theater in andere Medien zu bringen. Wie schön ist es, nicht nur mit Worten über Theater zu schreiben, sondern multimedial zu arbeiten, mit Bildern, Tönen, Interviews. Ganz viele Blickwinkel auf eine Theaterarbeit könnten die Zugänge erweitern.
Keim: Ich habe auch ganz großen Spaß daran, aber auch die Angst, dass der kritische Ansatz in einem Tohuwabohu der Darstellungsformen verloren gehen könnte.
Wölfel: Der kritische Anspruch geht ja nicht verloren. Ich glaube, dass die Zukunft der Theaterkritik zum einen in einer Vielstimmigkeit liegt, zum anderen aber auch in einer größeren Dialogbereitschaft mit den Kunstschaffenden. //