Theater der Zeit

Magazin

Blick der Künste hinter die olympischen Kulissen

Zwei Stücke des überregionalen Festivals Projeto Brasil in Dresden-Hellerau

von Michael Bartsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)

Assoziationen: Tanz Südamerika Sachsen Performance Freie Szene Akteure

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Aus der völligen Dunkelheit lösen sich allmählich erdfarben verschmierte Körper. Elf Gestalten nehmen Konturen an, bewegen sich, kriechen auf die lose im Saal verteilten Besucher zu. In ihrer Nacktheit mischen sich Schönheit und Erbärmlichkeit, das Publikum schwankt folglich zwischen Irritation und Ergriffenheit. Bis man ahnt, dass die Kreaturen, die aus dem ununterscheidbaren Schwarz geboren werden, wir selber sind. Wie Spiegelbilder richten sich die Tänzer vor uns auf, schauen Einzelnen herausfordernd in die Augen, bahnen sich ihren Weg durch das Menschenlabyrinth.

„For the Sky Not to Fall“ hat die vielleicht bedeutendste südamerikanische Choreografin, Lia Rodrigues, ihre jüngste Produktion genannt. Deren Uraufführung eröffnete am 19. Mai im Festspielhaus Dresden-Hellerau das Festival Projeto Brasil, ein Gemeinschaftsprojekt mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, dem tanzhaus nrw Düsseldorf und dem Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt.

„The sky is already falling“, stellte hingegen die Festivalzeitung im Untertitel resigniert fest und spielte, wie so oft bei diesem Festival, auf den Mai-Putsch in Brasilien an. Voreilig. Zumindest im Falle der Kunst. Denn die im Centro de Artes da Maré auf Zementboden und unter einem Blechdach in einer Favela Rios entstandene Choreografie bleibt nicht beim anfangs flehenden, erbarmungswürdigen Gestus stehen. Gleichwohl verfehlte dieser stumme Schrei der Kreatur seine herausfordernde Wirkung auf das Publikum nicht. Die vitale Steigerung, die Formierung zu einer Gruppe, ist zunächst ekstatische menschliche Existenzform, geradezu ein Lebensbeweis. Der Griff nach dem Himmel, nicht nur der spekulative Trost. Autos und Maschinen, Sturm und sengende Sonne, alles ist zu poetisieren. „Wir tanzen als Opfergabe und Tribut, um nicht zu verblühen … in der Hoffnung, lebendig zu blei- ben“, sagt Rodrigues über ihre Komposition.

Schließlich entfaltet die Gruppe eine kämpferische Dynamik, eine Wucht, die das Publikum aufs Neue verunsichert und aus zahmer Zurückhaltung aufschreckt. Das mit 830 000 Euro vorrangig von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt fünf führender Häuser zeitgenössischer performativer Kunst war ursprünglich als kritischer Kommentar zu den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro intendiert. Mit dem Sturz der Regierung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, in dessen Folge u. a. das Kulturministerium abgeschafft wurde, hat sich der Kontext verändert, es ist eine politische Dimension hinzugetreten. Ein Manifest mit dem Titel „Kultur für die Demokratie in Brasilien“ kursierte während der Festivalmonate Mai und Juni. „In diesem Moment ist die wahre Regierung Brasiliens hier draußen, auf der Straße“, heißt es darin. Aufführungen mündeten in verbale und plakative Proteste. „Es wird einen Kampf geben“, reckte Lia Rodrigues zur Pressekonferenz die Faust in die Höhe. Dieter Jaenicke, künstlerischer Leiter in Hellerau und zuvor mehrere Jahre in Brasilien tätig, fand zum Auftakt ebenfalls klare Worte.

Was bei Sportkommentaren im August über soziale und wirtschaftliche Verhältnisse in Brasilien oft am Rande anklang, konnten die Besucher von Projeto Brasil aus erster Hand erfahren. Mit großformatigen Fotos beispielsweise gibt eine Ausstellung von Pedro Lobo durchaus lebensbejahende Einblicke in die Favelas von Rio. Im gleichen Milieu spielt auch eine Inszenierung mit Jugendlichen, die Mitte Juni im Rahmen des Hellerau-Festivals Kids on Stage im Festspielhaus gezeigt wurde. Unter dem Titel „Paz sem Rosto – Frieden ohne Gesicht“ erzählten die Gäste aus Rio auf ebenso erschütternde wie liebenswürdige Weise eine Geschichte, die dort leider zum Alltag gehört. Straßenkinder kämpfen ums Überleben, und eines von ihnen tötet im Affekt beim versuchten Raub eines Handys einen Schüler aus der Schicht derer, die sich durch den Besuch einer höheren Schule zumindest Aufstiegschancen erhoffen können. Es werden Sätze gesprochen wie „Gewalt tötet – die Menschen und zuallererst die Träume“ oder „Die Jugend in Brasilien ist noch nie ernst genommen worden“. Moralisches Empfinden ist nicht tot. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so – um es mit Brecht zu sagen. Auch die deutschen Untertitel vermitteln noch ein Gefühl für die Sprache dieser 14- bis 18-Jährigen, deren Suche nach Werten und Orientierung unter schwierigsten Bedingungen tief empfundenen Respekt abnötigt. //

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