Theater der Zeit

Bericht

Vater, Sohn, ich in Nacht und Wind

„Der Erlkönig“ als 360° Virtual Puppetry vom Puppentheater Zwickau

von Christina Röfer

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Puppentheater Zwickau

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Puppentheater aus Zwickau in meinem Berliner Wohnzimmer – nach den Streaming-Marathons in Pandemiezeiten zwar nicht mehr so ungewöhnlich, doch der heutige Abend verspricht Neues: Per Post wurde mir das Theaterset zugestellt, dem ich nun VR-Brille und Kopfhörer entnehme. Kurz darauf sitze ich im digitalen Saal des Puppentheaters und steuere mit meinem Blick den Start-Button an: Die Vorstellung kann beginnen!

Die Bühne befindet sich um mich herum und ich folge mit Blicken den seitwärts ziehenden Nebelschwaden, dem sanft von oben herabfallenden Herbstlaub, den hinter mir erklingenden Stimmen oder dem Bewegung verheißenden Rascheln der Blätter. Dabei drehe und wende ich mich auf meinem Sitzplatz, während ich mich zugleich, dem virtuellen Wolkenstrudel sinnbildlich folgend, immer tiefer in die Geschichte hineinziehen lasse.

Im stark reduzierten, überwiegend aus Naturmaterialien gefertigten Waldsetting beschwört die knapp halbstündige Inszenierung unter der Regie von Monika Gerboc eine morbide Atmosphäre herauf, in der sich die Visualisierungen der bekannten Goethe-Strophen, untermalt von düsteren Klängen (Daniel Špiner), wie beunruhigende Traumsequenzen aneinanderreihen.

Martha Stöckner streift, in unschuldiges Weiß gekleidet und zunächst neugierig staunend, dann zunehmend entrückt wirkend, durch die Szenerie, in der tanzende Schmetterlinge und skelettierte Unterwasserwesen das Kind hartnäckig umgarnen. Plötzlich schwebt ein Knochenvogel (Puppen: Rafał Budnik) mit gespreizten Krallen auf mich zu. Ebenso wie die verführerisch-säuselnde Off-Stimme des Erlkönigs (Błazej Modelski) scheint auch diese Gestalt, die in ihrer Fortbewegung von den schwarz gekleideten Spieler*innen immer neu zusammengesetzt wird, flüchtig. Währenddessen lässt Calum MacAskill als Vater dessen Hilflosigkeit und wachsende Verzweiflung ob des dahinschwindenden Kindes sichtbar werden.

Das gelungene Ensemblepuppenspiel (Hanna Daniszewska, Laura Waltz, Camillo Fischer, Calum MacAskill) zeigt sich auch, wenn etwa ein Hirsch mit ausladendem Geweih scheinbar leichthufig durch den Raum trabt. Dabei werden dessen Vorderbeine von einer Spielerin geführt, die zugleich seinen Rumpf auf dem Rücken trägt, während die weiteren Körperteile von den Kolleg*innen in stimmiger Choreografie mitbewegt werden. Oder wenn ein beinahe lebensgroßes Pferd herangaloppiert, über mich hinwegspringt und mir so erlaubt, das Metallgerüst der Puppe von unten zu beschauen.

Mögen auch manche Sequenzen mehr Effekt als erzählerisches Mittel sein – Gerboc und ihr Team haben die 360°-Idee ernst genommen und die puppenspielerische Experimentierfreude mit dem Medium Virtual Reality deutlich spürbar werden lassen. Am Ende grauset’s nicht nur dem Vater, als er endlich den Hof erreicht und doch zugleich den Tod seines Kindes feststellen muss: Kam der Balladentext bisher aus dem Off, so blicken mich nun die Spieler*innen direkt an, während sie die tragische Pointe rezitieren, die mir dadurch umso unausweichlicher erscheint.

Den Applaus verlagere ich auf die Postkarte, die ich mit dem technischen Equipment am nächsten Tag zurück nach Zwickau schicke. Auch wenn das Spiel nicht live war – mein Erlebnis war es.

Diese und ab Dezember 2022 weitere Puppen-VR-Balladen unter

www.puppentheater-zwickau.de – www.virtual-puppetry.de

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