Frankreich ist Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse 2017. Das ist erfreulich und willkommener Anlass für eine Momentaufnahme der französischen Gegenwartsdramatik. Diesem Theater der Zeit Spezial Frankreich liegt aber noch ein zweiter, weniger euphorisierender Impuls zugrunde. Zwei Jahre nach den islamistisch motivierten Attentaten in der Pariser Innenstadt erzielten die Rechtsextremen in Frankreich historische Wahlerfolge. Zwar konnte der Front National die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen nicht für sich entscheiden – was bleibt, ist jedoch eine politische Katerstimmung. Wie schreibt man in einem Land, das von immer tieferen sozialen Gräben durchzogen und von neuen Ängsten um die eigene Sicherheit geprägt ist, für das Theater?
Die Stellung von zeitgenössischen Theatertexten in Frankreich ist paradox: Sie sind omnipräsent und unsichtbar zugleich. In jedem Buchladen finden sich neue Stücke – auf den Bühnen aber nur sehr selten. Die französischen Gegenwartsautoren schaffen es weder in Frankreich noch in Deutschland auf die Bühnen, stellen unisono der französische Autor Guillaume Poix und die deutsche Übersetzerin Almuth Voß fest. Was sind die Gründe hierfür? Ist diese Situation unumkehrbar? Was lässt darauf hoffen, dass sich das künftig ändert?
Das Frankreich Spezial sucht anhand von Gesprächen und analytischen Texten Antwort auf diese Fragen. Die zahlreichen hier versammelten Beiträge geben begründeten Anlass zur Hoffnung auf einen Wandel: die kraftvolle Rückkehr des politischen Theaters; die spürbar ansteigende Präsenz von Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund; die bedeutendere Position, die Autoren in nationalen und auch einigen regionalen Theatern innehaben; der Tatendurst, mit dem Orte wie das Pariser Théâtre Ouvert sich für neue Dramatik engagieren; die wiedererstarkte Dynamik von staatlichen Institutionen wie Artcena; die Ausbildung von Nachwuchsautoren an nationalen Theaterschulen – und nicht zuletzt die Kraft und Fantasie, mit denen Autoren und Autorinnen nicht müde werden, die Welt, in der sie leben, neu zu erfinden.
Anders als es der Ruf der oft als konventionell beschriebenen französischen Dramatik will, sind die Formen, die aus dieser Entwicklung resultieren, äußerst vielfältig. Auch in Frankreich verwischt der Gegensatz zwischen Individuum und Kollektiv, Original und Zitat, Verbalem und Non-Verbalem, schreibt der Dramaturg Daniel Loayza in seinem Beitrag: „Der Begriff écriture (Schreiben) wird nach und nach zu einer ebenso praktischen wie ungenauen Metapher.“ Und er fügt den nicht unwesentlichen Nachsatz an: „Was vielleicht gar nicht so schlecht ist.“ Auch wenn diese Ausgabe in erster Linie untersucht, wie Theatertexte entstehen, spürt sie gerade deshalb auch Protagonisten nach, die andere Formen des Schreibens praktizieren. Dem Regisseur Julien Gosselin etwa, der Romane für sein Theater adaptiert. Oder der Theaterleiterin Marie-José Malis, die Menschen aus der Pariser Banlieue einlädt, das Wort zu ergreifen. Oder schließlich den Theatermachern Joël Pommerat und Philippe Quesne, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise Räume der Stille für sich sprechen lassen.
Möge dieses Frankreich Spezial dazu beitragen, dass frankofone Gegenwartsautoren mit aller Kraft auf unsere Bühnen zurückkehren.