Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Grandioses Comeback

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen – Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen

von Thomas Irmer

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Ida Müller Vegard Vinge Volksbühne Berlin

Nach acht Jahren zurück an der Volksbühne: Vinge/Müller mit „Peer Gynt“. Foto Julian Röder
Nach acht Jahren zurück an der Volksbühne: Vinge/Müller mit „Peer Gynt“Foto: Julian Röder

Anzeige

Nach acht Stunden war offenbar in Verabredung mit der Volksbühne Punkt zwei Schluss mit den wiederholten Worten „Morast und Scham“, die Peer Gynt von einem Berghügel verkündet, vielleicht auch mit Blick auf Berlins Theater. Da hatte sich der Flow längst eingestellt, mit dem Vinge/Müller und laut Programmzettel etwa sechzig Mitwirkende am Beginn des dritten Akts noch lange hätten weitermachen können.

Zeit spielt überhaupt eine große Rolle. Acht Jahre sind seit ihrer letzten Arbeit in Berlin vergangen, dem „Nationaltheater Reinickendorf“, das auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik Motive aus „Baumeister Solness“ bis in explosive Morgenstunden hinein zeigte. Danach gab es hier nur noch Nachrichten über Personalien zu Vinge/Müller, die meist kontrovers diskutiert wurden. Erst sollte Ida Müller Ausstattungsleiterin der Intendanz von René Pollesch werden – und wurde dann doch nicht eingestellt. Dann bot man den beiden nach Polleschs bestürzendem Tod die Interimsintendanz der Volksbühne an, die sie wegen der drohenden Einsparungen absagten. Vor ein paar Monaten gab es den Hein-Heckroth-Preis für Bühnenbild (siehe TdZ 6/25) als hohe Auszeichnung in dieser Gattung.

In Norwegen waren sie indes immer wieder mit neuen Arbeiten präsent, zum Beispiel einer Freiluftshow zum legendären Fußballsieg Norwegens gegen England, der in der Sportmythologie des Landes eine herausragende Rolle spielt. In der Corona-Zeit, die jetzt in „Peer Gynt“ auch thematisiert wird, zogen sie sich auf eine Insel am Rande des Nordmeers zurück, wo Vegard Vinge Hunderte Bilder malte und auch schon Szenen von Ibsens dramatischem Gedicht konzipierte.

Nun also das Comeback, nicht ohne das Risiko eines allzu großen Zeitlochs, auf der großen Bühne und unter Einbeziehung des Seitenfoyers als Galerie und Studio per Videobild. Für ihre Methode, die Ibsen-Stücke aus der Perspektive der jugendlichen Figuren zu erzählen oder zumindest deren Problematik zu betonen, ist „Peer Gynt“ geradezu eine natürliche Vorlage. Der Junge existiert gleich zweifach in Gestalt des Master of Ceremony Vegard Vinge und von Maximilian Brauer gespielt als zunächst depressiver Teenager im Joy-Division-Shirt, der von seiner Mutter richtig brutal vermöbelt wird (bei Ibsen ist es eine kleine Ohrfeige wegen Lügens), und – neu sind animierte Zeichnungen – ins Kino geht, um sich dort die unfassbaren Grausamkeiten der amerikanischen Vietnamkriegsfilme von „The Deer Hunter“ bis zu „The Casualties of War“ unter Tränen anzuschauen. Wenn man so will, wird die Peer-Adoleszenz in eine Jugend der späten siebziger und frühen achtziger Jahre verschoben mit allen pop-, film- und sportkulturellen Referenzen hinein in eine letztlich stark repressive Provinzwelt mit ihren David-Lynch-haften Geheimnissen von Sexualität und Gewalt. Ein amerikanisch kostümierter Polizist knüppelt das gerade erwachende Begehren Peers nieder, und an der Bar, wo ejakulationspritzend Pornofantasien ausgelebt werden, steht ein vergammeltes Schild, in dem schon Buchstaben fehlen, dass hier mal eine Impfstelle gewesen sei. Gleich daneben ist das noch erdig aufgehäufte Grab von Jon Gynt, dem Vater, der das Familienheil verjubelte – ein sonst in „Peer Gynt“-Inszenierungen kaum beachteter Schmerzpunkt.

Solvejg (Ida Müller) ist in einer chinesischen Wäschereinigung gefangen, wo das Zuwandererkind bei Reparaturen mithelfen muss. Die protzige Haegstad-Gesellschaft bereitet indes Ingrids Hochzeit vor. Diese Oberschicht ist in einem Vorgriff auf die Szenen aus der Trollwelt mit einem unterirdischen Labor verbunden, wo ein geheimer Dovre-Impfstoff produziert und Geld aus einem Sack für Kultur in einen für die Pharma-Industrie umgeschaufelt wird. Das Ibsen-Personal wird so fast in Comicmanier sozial konturiert und für die Gegenwart interpretiert.

Doch ganz so einfach ist es dann – für die ersten zwei Akte – doch nicht, denn über diesen klaren Setzungen liegen etliche Musikzitate des norwegischen Gesamtkunstopernfans, der hier sogar von ihm gezeichnete Porträts berühmter Dirigenten mit einspielt. Ein riesiger Pimmel wird aus dem Bühnenhimmel heruntergelassen, auf dem Peer dann seine Reise nach Nordafrika bis zu den Pyramiden antritt, wie es auf den Screens neben der Bühne als Vorgriff auf den vierten Akt aufflackert. Zugleich ist es wohl eine Art Hommage an Florentina Holzingers sexualisierten Hubschrauber in „Ophelia’s Got Talent“ am gleichen Haus.

Natürlich wurde sofort spekuliert, ob die Premiere nur den ersten Teil darstellte, der dann wie nach einer Unterbrechung einfach weitererzählt würde. Demnach käme ein Vorstellungsset auf 48 Stunden Spielzeit für eine vollständige „Peer Gynt“-Aufführung. Doch nach der zweiten Vorstellung ist diese Spekulation hinfällig, denn auch diese bewegte sich in ähnlicher Struktur nur bis zum Beginn des dritten Akts, wo Peer nach dem Versuch, sich eine Hütte zu zimmern, von „Scham und Morast“ spricht. Ob er die Pyramiden noch erreicht und dort endlich in die Arme des deutschen Irrenarztes Dr. Begriffenfeldt fällt, bleibt also abzuwarten. Schön wär’s ja.

Erschienen am 29.9.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag