Theater der Zeit

Festivals

Omas deutsche Tugenden

Der 30. Geburtstag des Festivals Impulse in Nordrhein-Westfalen fand coronabedingt größtenteils im Netz statt – zudem schmerzlich verkürzt

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs – Wajdi Mouawad und der Libanon (09/2020)

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Die sechs afrodeutschen Frauen, die Magda Korsinsky für ihre Installation „Stricken“ interviewt hat, haben weiße Großmütter. Der Titel verdankt sich der speziellen Textur der Leinwand, auf welche die Porträts der jungen Frauen projiziert werden. Sie sind aus Textilien gefertigt, die die Großmütter aus ihren Schränken geholt haben. Beim Betrachten der Videos – das Festival Impulse fand dieses Jahr coronabedingt in einer verkürzten Version online statt – drängte sich der Eindruck auf, dass die Großmütter für die Erziehung der Mädchen eine prägendere Rolle gespielt haben als ihre weißen Mütter. Nur hin und wieder garnierten sie ihre Kommunikation mit der tröstlichen Versicherung: „Du bist ja gar nicht schwarz – nur mokka!“

Ein mehr oder weniger subkutaner Rassismus und der jeweilige Umgang damit, oft ironisch, humorvoll, liebevoll-distanziert, liefert Stoff für die Interviews. Als ein „Teufelsdreieck“ schildert eine der Frauen mit einem Lächeln die Triangel Oma/Mutter/Tochter. Die oft jungen (und berufstätigen) Mütter haben das Feld offenbar recht gern ihren eigenen Müttern überlassen, die ihrerseits die größere erzieherische Kompetenz für sich beanspruchten. Die Väter, die etwa als Studierende und junge Akademiker aus verschiedenen afrikanischen Ländern in die deutsche Provinz kamen, rückten ins zweite Glied. Eine der Frauen berichtet von der Sturheit und dem Eigensinn ihrer Großmutter, eine andere spricht von bedingungsloser Liebe. Gepredigt worden seien die alten deutschen Tugenden: Fleiß vor allem, „Druck auf dem Schwamm“. Nicht zuletzt ging es um eine entschiedene Bindungsbereitschaft: „Erfolgreich ist man so lange, wie man sich nicht getrennt hat“, bringt eine der Frauen die Moral der Oma auf den Punkt.

Eine andere junge Afrodeutsche berichtet freimütig von ­ihrem eigenen verinnerlichten Rassismus. Als ihr einmal in der Bahn ein schwarzer Fahrgast gegenübersaß und ein Handy aus der Tasche zog, habe sie instinktiv denken müssen: „Das ist bestimmt geklaut!“ Sie kann darüber froh lachen, wie der Zuschauer auch, aber solche aberwitzigen Reflexe geben immerhin zu denken. „Ich bin extrem deutsch“, bekennt diese Frau, deren Vater aus dem Sudan stammt – und man glaubt es ihr. Über die Beziehungen der Frauen zu ihren Vätern erfährt man bei alldem leider ­wenig.

„Stricken“ konnte man flexibel im Internet abrufen; die internil-Produktion „Es ist zu spät“ lief dagegen als Live-Show an einem späten Samstagabend. Der „Alleinunterhalter“ Arne Vogelgesang, der sich hinter dem Label internil verbirgt, präsentiert hier mit einem charmanten Lächeln die deprimierendsten Daten zur Klimakatastrophe, die mindestens so schwarz sind wie der imposante Vollbart des Propheten. (Am Schluss, als Special Effect, rasiert er ihn ab.) „Es ist zu spät“: Der Titel verrät es ja schon. Die Spezies Mensch, die 0,01 Prozent aller Lebewesen auf diesem Planeten ausmacht, hat es vollbracht, die Überlebenschancen der restlichen 99,99 Prozent zu dezimieren – mittelfristig, langfristig, darüber kann man streiten.

„Ich habe gelernt, dass …“: Mit dieser wiederkehrenden Floskel instrumentiert Vogelgesang seine Mitteilungen, wohl um den Eindruck zu vermeiden, er wolle andere belehren. Nein, belehrt werden muss sicher niemand mehr, im Großen und Ganzen sind die Fakten bekannt. Man mag das Lächeln dieser smarten Kassandra nicht diabolisch nennen – aber welche bessere Vokabel fällt einem dazu ein? Dass der Bart am Schluss der Haarschneidemaschine geopfert wird, erscheint als genau das: ein spirituelles Opfer. Nützen wird es wenig, denn der Götter sind keine.

Daneben präsentierten die Impulse, seit 2018 (und bis 2023) kuratiert von Heiko Pfost, eine virtuelle Eröffnungsparty, eine Akademie zum Thema „Soziale Herkunft und freies Theater“ und einen „Telefonkanon“ mit den Veteraninnen She She Pop. Nächstes Jahr soll dann – nach dieser Notoperation im Internet – der dreißigste Geburtstag der Impulse nachgefeiert werden, live und mit Gästen, wie es sich für ein Festival gehört. //

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