Residenztheater München: Oh, wie schön ist Paraguay
„Bavaria“ von Guillermo Calderón – Regie Guillermo Calderón, Bühne und Kostüme Sophia Sylvester Röpcke, Dramaturgie Katrin Michaels
Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Dossier: Chile Guillermo Calderón Residenztheater
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Für Hardcore-Heimatverbundene ist Bayern ja so etwas wie der Himmel auf Erden. Die Frauen des Chors hingegen, von denen das Stück „Bavaria“ des chilenischen Autors und Regisseurs Guillermo Calderón handelt, empfinden es als Hölle. Für sie ist vielmehr Paraguay das Paradies, von dem sie träumen und wo sie all das zu finden hoffen, wonach sie sich sehen: Frieden und Freiheit, ein Leben in Einklang mit der Natur, dafür ohne staatlich verordnete Impfungen. Weit ab von den Zumutungen der westlichen Welt. Oh, wie schön ist Paraguay.
Im Probenraum dieser zum Querdenkertum neigenden Chorgemeinschaft mit unübersehbar sektiererischem Gruppenzwang herrscht schwerster Esoterik-Alarm. Als hätten die Damen einen Eine-Welt-Laden leergeshoppt, ist die Bühne (Ausstattung: Sophia Sylvester Röpcke) ausstaffiert mit Salzsteinlampen und anderem Wohlfühl-Nippes. Überall liegen Kissen herum, deren Ethnomuster mit den bunten Kleidern der Frauen korrespondieren. Leinengewänder mit gestickten Applikationen oder Selbstgestricktes. Ein Klavier dient als Sammelpunkt für gemeinsamen Gesang. Volkslieder werden angestimmt – bayerisches, aber auch südamerikanisches Liedgut. Singen ist für diesen Chor so etwas wie praktizierte Inbrunst. Entsprechend innig intoniert das sechsköpfige Ensemble die Lieder. Ironische Brechung stellt sich durch die Rahmung ein, durch den ergriffenen Ernst mit dem Guillermo Calderón die Figuren des Stücks zu Werke gehen lässt, der von außen betrachtet natürlich lächerlich wirkt.
Und so harmonisch, wie sich die Gruppe beim Gesang auch anhört, ist sie ohnehin nicht. Der Wohl- und Gleichklang wirkt eher als Kontrast zu den immer deutlicher zu Tage tretenden Verwerfungen innerhalb der Gemeinschaft. Eine der Frauen, Karola, war mehrere Wochen in Süd Amerika, zum Scouten sozusagen, auf der Suche nach einem konkreten Ort für den Neubeginn. Während ihrer Abwesenheit regten sich bei einigen anderen Zweifel am Projekt Auswanderung. Und als hätte Karola es geahnt, hat sie Franka mitgebracht von der Reise, eine deutschstämmige Paraguayerin, die schwärmen soll von der Ferne, um die Wankelmütigen zu überzeugen. Doch der Plan geht nicht auf, im Gegenteil: Der Ton der Diskussion wir zunehmend unversöhnlicher. Gut beobachtet: Calderón zeigt wie Achtsamkeit schnell in Aggression umschlägt, da wo vor allem egoistische Motive dahinterstecken. Seine Figuren gehören zu der nicht selten anzutreffenden Sorte Mensch, die einen behutsamen Umgang mit sich selbst einfordert, ihre Ansprüche dabei andern gegenüber aber reichlich rücksichtslos geltend zu machen versteht.
In die gereizte Diskussion mischt Guillermo Calderón im Laufe des Abends eine historische Debatte. Die Handlung nimmt ein paar überraschende Wendungen, vor allem durch Franka, die deutschstämmige Paraguayerin, die sich als Chilenen entpuppen wird und zuletzt noch eine andere Identität enthüllt. Mit diesen Plot-Twists kommen verschiedene verstörende Volten der kolonialen Vergangenheit ins Spiel. Die Geschichte deutscher Emigration nach Südamerika wird dabei zur Blaupause für den Aufbruch des Frauenchors, von dem Calderón erzählt. So wie schon frühere deutsche Auswanderer Land in verschiedenen Regionen Südamerikas an sich nahmen, von dem sie die einheimische Bevölkerung rücksichtlos vertrieben, reklamieren auch die Frauen in „Bavaria“ zur Verwirklichung ihrer Träume vom Neubeginn mit großer Selbstverständlichkeit ein Stückchen des Kontinents für sich. Frei nach dem sehr bayerischen Motto: Wer zahlt, schafft an! Dieser kolonialgeschichtliche Kontext hebt den Abend erfreulicherweise über das hinaus, als was er anfangs erscheint: als amüsante, aber letztlich etwas läppische Satire über einen esoterischen Zirkel auswanderwilliger Damen. Die historische Folie macht dann aber die Geisteshaltung sichtbar, die dahinterliegt: eine vor allem in der westlichen Welt vorherrschende Tendenz, sich auf Kosten anderer Kulturen zu verwirklichen. Eine Toleranz, die nicht über den eigenen Tellerrand hinausreicht. Nennen wir es ruhig: postkoloniales Denken. Kaum verwunderlich, dass die Heimat „Bavaria“ die Auswanderinnen zuletzt auch in der Ferne einholt. In einem bizarren Epilog sehen wir die Chorfrauen doch noch angekommen in Paraguay jammernd hinter einem riesigen Kunststoff-Kaiman mit bedrohlich aufgerissenem Maul stehen. Auch das neue Zuhause zeigt ihnen seine Zähne und lehrt sie das Fürchten. Auf ihren Oberarmen kleben Impfpflaster – exemplarisch dafür, dass man dem, wovor man wegläuft, meist doch nicht entkommt. Das zutiefst sarkastische Schussbild zeigt denn auch zwei der Frauen im Mater-Dolorosa-Look. Allerdings sind diese beiden schmerzensreichen Mütter nicht in marienübliches Blau gekleidet, sondern haben sich in die blauweißen Rauten der bayerischen Fahne gehüllt. Die Heimat als schützende Hülle gegen die Zumutungen der Fremde, in der doch eigentlich alles hätte besser werden sollen.
Erschienen am 9.3.2023