preisverleihung
Vernunft und Empathie
Eine Danksagung zur Verleihung des Lessing-Preises des Freistaates Sachsen 2021
von Wilfried Schulz
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Nordrhein-Westfalen Sachsen Akteure Staatsschauspiel Dresden Düsseldorfer Schauspielhaus
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Vertreter:innen des Freistaates Sachsen,
zuerst möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen, dass ich diesen Preis, der in einer guten und wichtigen Tradition steht, erhalte. Dank auch an die Jury, die diesen Vorschlag unterbreitet hat, und an Matthias Lilienthal für seine freundlichen und nachdenklichen Worte.
Im Augenblick sind wir in den Endproben von Lessings „Minna von Barnhelm“ am Düsseldorfer Schauspielhaus. Wenn man so will, komme ich gerade aus einer Hauptprobe der Inszenierung, Lessings Texte im Ohr und seine Menschen vor Augen. Fast hatte ich vergessen, mit welcher Klarheit bei Lessing Argument an Argument gereiht wird, mit welcher Konzentration zugehört und widersprochen wird, wie um die Sache gestritten wird und wie verrückt es ist, wenn es einmal nicht um das eigene Recht geht, sondern um das Recht des anderen. Wie ein Mensch ganz bei dem anderen ist und Gefühl und Gedanke, Zuneigung und Vernunft einander angehören und untrennbar sind. „Minna von Barnhelm“ war zu seiner Zeit ein politisches Stück, ein Krisenstück, ein Stück Gegenwartsliteratur, es folgte keinem idealen Gedanken, sondern war Ausdruck einer gefühlten Not und Notwendigkeit. Es war übrigens ein großes Erfolgsstück, denn das Publikum hat all dies gespürt und gemocht.
Jede Stadt und jedes Theater, an dem ich gearbeitet habe, sei es als Dramaturg, sei es als Intendant, hat mir andere, höchst unterschiedliche Aufgaben gestellt. Darauf einzugehen, diesen Aufgaben nachzuspüren, betrachte ich als einen Kern meines Berufs. Und ich denke, ich gehe nicht ganz fehl, wenn im Zentrum dieser Ehrung meine, unsere Arbeit am Staatsschauspiel Dresden steht. In einer Hinsicht war die Zeit in Dresden vielleicht bislang die erfüllendste in meinem Theaterleben: Ziel und Sinn der Theaterarbeit lagen glasklar vor uns, was manchmal in der Deutlichkeit des Auftrags, den man verspürte, dem man aber auch nicht entkam, fast schmerzlich war. Unsere Dresdner Zeit war kein frei schweifendes Spiel, war nicht gekennzeichnet vom Übermut und der Sehnsucht nach Entgrenzung der Kunst, sondern von selbstverständlicher gesellschaftspolitischer Verantwortung, die man – in seltener Identität – als Theatermacher und Bürger dieser Stadt täglich spürte. Man hatte einen Auftrag. Theater war notwendig und wurde gebraucht. Eine übrigens in der Stadt Dresden historisch nicht ganz neue Erfahrung. Auch jetzt: Man wusste, was man tat und warum man es tat. Der Spielplan schrieb sich leicht. Es ging schlicht darum, ganz im Lessingʼschen Sinne, Vernunft, die Luzidität der Aufklärung und Empathie in ein sinnliches Spiel miteinander zu bringen, einen offenen Ort zu kreieren, wo Geschichte, Gegenwart und Zukunft verhandelt werden. Theater ist dieser gemeinsame Ort mitten in der Stadt, der allen und niemandem gehört.
Auf der Bühne muss niemand Recht haben, noch nicht einmal Recht bekommen. Wir machen Vorschläge, bieten Perspektiven an. Ja, sie sind den Werten der Vielfalt, der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit verpflichtet, aber sie belehren nicht. Jeder Mensch im Publikum sieht ein anderes Stück, nimmt sich und seine Gedanken und Gefühle mit auf die Bühne, und er erträgt es, dass sein Nachbar und seine Nachbarin zur Rechten und zur Linken an einer anderen Stelle als er lachen oder aufstöhnen, dass sie spürbar mit ihrer Empathie woanders sind. Theater ist ein zutiefst demokratisches Medium, es lehrt uns, gemeinsam zu sein, sich auf eine Sache zu konzentrieren und Unterschiede, Differenzen auszuhalten. Es hilft uns aber auch, durch diesen Prozess eine Haltung zu finden und sie zu vertreten. Theater ist der gemeinsame Ort mitten in der Stadt.
Haben wir diese Zeit des Nachdenkens und Nachfühlens? Zugegebenermaßen leben wir in einer Welt, die täglich ein wenig ungeduldiger, ein wenig verzweifelter, ein wenig kontroverser wird. Ernst Bloch nennt dies eine vielfach zerspellte Welt. Die gefühlte Dringlichkeit wächst und damit die Sehnsucht danach, dass Kunst nicht nur ein Reflexionsraum, sondern ein direkt zum Eingreifen ermutigender Handlungsraum sei. Dies ist in den Theatern deutlich spürbar, dies ist Teil einer gesellschaftlichen Debatte. Und die Pandemie, der rasende Stillstand hat Prozesse der Distinktion forciert, manchmal – im besten Falle – auch Räume der Selbstbefragung geöffnet. Wir werden neu nachdenken müssen und wollen, auch über das Verständnis von Theater, über sein Verhältnis zum Publikum, über die Freiheit der Kunst und, ja, auch den gesellschaftlichen Gebrauchswert der Kunst. Und es werden neue Konzepte entstehen, andere als Lessing sie in seinem Gegenwartstheater entwickelte und andere als wir sie in unseren Dresdner Jahren probierten und lebten. Die drängende Ungeduld Lessings, der eine bessere Welt wollte, sollten wir dabei genauso mitnehmen wie sein Interesse an den Menschen, seine Geduld im Argumentieren, im Abwägen dessen, was man – heiße man Minna von Barnhelm oder Tellheim – für diese Zukunft braucht und was sie ausmacht.
Abschließend ein großer Dank an alle Weggefährt:innen aus der Dresdner Theaterzeit, an Robert Koall und Felicitas Zürcher, Miriam Tscholl und Jürgen Reitzler, Christian Voß und Martina Aschmies, Irène Favre de Lucascaz und Roland Oertel, an Tilman Köhler, Friederike Heller, Volker Lösch und Roger Vontobel, an Sonja Beißwenger und Christian Friedel, Philipp Lux und Karina Plachetka, an die vielen Künstler:innen und Mitarbeiter:innen, die ich gerne alle nennen würde, die ihre unterschiedliche Geschichte und ihre Geschichten in das Theater mitbrachten und sich an einer gemeinsamen neuen Aufgabe so euphorisch wie kritisch beteiligten. Mögen Vernunft, Empathie und der Mut und die klugen Fragen der Kunst uns begleiten.
Düsseldorf, 14. Dezember 2021
Wilfried Schulz war von 2009 bis 2016 Intendant des Staatsschauspiels Dresden und leitet seit 2016 das Düsseldorfer Schauspielhaus. Die Preisverleihung durch die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch fand virtuell statt und kann unter www.lsnq.de/LessingPreis angesehen werden.