GESPRÄCHE/INTERVIEWS
Die Utopie vom internationalen Theater
Luk Perceval und Milo Rau über ihre Vision eines Theaters für das 21. Jahrhundert im Gespräch mit Thomas Irmer
von Luk Perceval, Thomas Irmer und Milo Rau
Erschienen in: Arbeitsbuch 2019: Luk Perceval (07/2019)
Assoziationen: Debatte Sprechtheater Hamburg Thalia Theater
Sie beide verbindet das Interesse, Theater neu zu organisieren, dafür neue Wege zu finden, in der Überzeugung, dass dies dringend notwendig ist. Milo Rau, Sie haben für das NTGent das Genter Manifest veröffentlicht mit zehn Regeln, wie Ihr Theater arbeiten soll. Luk Perceval, Sie haben vor vielen Jahren auch Manifeste geschrieben. Haben Sie sich über das Genter Manifest verständigt?
Milo Rau: Wir haben uns das erste Mal 2017 in Köln getroffen. Das Manifest wurde 2018 aus der Erfahrung im deutschen Theatersystem verfasst. Es ist ein Regelwerk, das aus den Bedingungen heraus entstand, wie Theater in Deutschland gemacht wird. Ich wollte die Aufmerksamkeit von der Fixierung auf das Management des Theaters auf seine eigentliche Produktion lenken, weg von der eingefahrenen Routine mit einem Spielzeitmotto, zu dem dann die geeigneten Regisseure und Bühnenbildner und so weiter gefunden werden. Das Manifest ist keine ästhetische Maßgabe des Theaters, da ist alles frei. Meine letzte Inszenierung „Orest in Mossul“ befolgt übrigens auch nicht alle Gebote. Ähnlich wie beim DOGMA-Manifest im Film damals, wo auch kein einziger Film nach allen Regeln des Manifests gedreht wurde. Ich wollte die übliche Produktionsweise hinterfragen, und deshalb habe ich die Regeln entwickelt, damit Inszenierungen kleiner und persönlicher werden.
Luk Perceval: Zunächst einmal habe ich mich über das Manifest sehr gefreut, denn ich sehe es als eine Provokation. Provokationen kommen im Theater kaum noch vor. Während meiner 18 Jahre im deutschen Theater wurde der ökonomische Druck immer größer, es ging nur noch um Erfolg mit einem ausverkauften Haus. Das Theater wurde dafür zunehmend konsumierbar. Theater als Freiraum dafür, Tabus und klassische Ansichten von Theater zu brechen, ist am Verschwinden. Selbst das Theater von Frank Castorf, einer der Radikalsten, geht auf sein Ende zu.
Sie sagen, das Manifest beziehe sich in erster Linie auf die Strukturen des Theaters, wie sie in Deutschland vorherrschen. Worin bestehen denn die Unterschiede zu Flandern? Die Forderung nach Mobilität und die Frage der Sprachenvielfalt zum Beispiel sind doch hier sowieso anders gelagert und dürften sich so kaum auf Belgien anwenden lassen.
Perceval: Das stimmt nicht. Als ich das Manifest las, war ich angenehm überrascht, wie viel sich davon auf das belgische System anwenden lässt. Das heißt nicht, dass ich hundert Prozent damit übereinstimme. Aber der wichtigste Punkt für mich ist, dass jemand sagt, wir müssen uns auf unsere eigentlichen Aufgaben konzentrieren und dafür unsere Position bestimmen. Deshalb sind wir beide hier zusammen. Denn wir brauchen diese Art von Diskurs dringend. Regisseure treffen sich ja ansonsten kaum, sind immer auf Achse, und deshalb gibt es auch viel zu wenig Austausch untereinander. Das Theater sieht sich indes als „harmoniesüchtige Gemeinschaft“. Alle träumen von Frieden und Liebe, aber Theater ist in seinem Wesen Konflikt. Wenn wir auf seine Geschichte schauen, dann war es von Anfang an ein Instrument, dem Volk eine Bühne zu geben und die Mächtigen zu provozieren. Hier hat das Theater seine Wurzeln in der katholischen Kirche, die es dann aus ihrem Kreis verbannte. Provokation ist also ein wesentlicher Bestandteil des Theaters. Deshalb finde ich Milos Manifest, und dass er jetzt hier in Gent ist, wichtig. Endlich kommt mal jemand und sagt: Egal, ob ihr damit einverstanden seid, aber ich bring jetzt mal den Stein ins Rollen. Konflikt ist gut und notwendig im Theater. Ich habe ein Beispiel von letzter Woche, als wir in den Proben für „Black“ in einer Krise feststeckten. Mit den Jahren habe ich gelernt, nicht auf die belgische Weise zu reagieren: Pferde am Zügel halten und so tun, als würde sich alles lautlos in Wohlgefallen auflösen. In Deutschland habe ich erfahren, wie man einen Konflikt ernst nimmt, ihn ausdiskutiert, auch wenn es weh tut, und eine Lösung sucht.
Rau: Das Manifest soll vor allem eine Diskussion anstoßen über Dinge, die hier und in Deutschland seit vielen Jahren schmoren. Auch darüber, dass jemand sagt: Nein, klassische Texte sind doch immer noch wichtig, warum sollen die jetzt weg. Darüber muss gesprochen werden. Keine Adaptionen mehr, sondern nur noch ein Fünftel des Ursprungstextes, darüber soll diskutiert werden.
Noch einmal zurück zu dem Aspekt, dass Regisseure sich nicht über ihre Angelegenheiten austauschen. Meine Wahrnehmung vom deutschen Theater ist, dass das gar keine Harmoniegemeinschaft ist, sondern eine Kultur der Konkurrenz, in der Leute gute Gründe haben, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Diese Konkurrenz verhindert doch, das System als Ganzes zu ändern, sie wirkt kontraproduktiv.
Rau: Das ist ein heikler Punkt. Aber ich beziehe mich auf meine Arbeit hier und stimme Luk zu, dass wir die Arbeit von Kollegen zu wenig wahrnehmen. Mal von diesem Manifest abgesehen, finde ich es befreiend, das Programm und den Spielplan in Gent gestalten zu können. Ersan Mondtag inszeniert hier, mit seiner ganz eigenen Arbeitsweise, die sich von Luks sehr unterscheidet, genauso Miet Warlop und Alain Platel. Auf diesem künstlerischen Level gibt es keine Konkurrenz, aber es kann wichtig sein, dass man erfährt, mit welchen ähnlichen Problemen andere Regisseure sich herumplagen. Das gefällt mir sehr. Ein Beispiel von meiner Warte aus: Ich hatte immer Schwierigkeiten mit dem, was abseits der Proben noch von mir vorzubereiten ist. Zu sehen, wie Luk damit umgeht, ist ein guter Erfahrungsaustausch. Man lernt durch andere. Was für mich neu war. Als Künstler will man ja nur seinen eigenen Weg gehen. Das Manifest, um es noch einmal zu sagen, soll keine Begrenzungen festlegen, sondern eine Aufforderung sein: Kommt zusammen, um gemeinsam herauszufinden, was Theater sein könnte. Ein anderes Problem, das mich in Deutschland sehr unzufrieden werden ließ: Gastspiele waren wegen der Kosten kaum möglich. Aber für mich ist es sehr wichtig, dass meine Arbeiten touren. Ich lege großen Wert darauf, dass die hier produzierten Arbeiten auch anderswo zu sehen sind. Das ist das Modell, mit dem wir hier arbeiten.
Mobilität und internationaler Austausch im Theater haben in den letzten zwanzig Jahren enormen zugenommen. Percevals Inszenierungen sind in vielen Ländern Europas, aber auch weltweit bis hin nach China gefragt. Die Internationalisierung hat das Theater als Ganzes bereits verändert. Das Manifest argumentiert da in die richtige Richtung. Trotzdem sehe ich darin auch Beschränkungen, die ein Kritiker aus Deutschland als „Tanzen in Handschellen“ beschrieben hat. Luk Perceval, Sie sagten, dass sogar Castorfs Theater auf sein Ende zugehe. Wenn wir das Manifest beim Wort nehmen, dann meint es doch auch, dass die fünfzigjährige Ära des Regietheaters zu Ende geht: eine Theaterkultur der Neuinterpretation alter Texte in Auseinandersetzung mit dem Publikum. Ich verstehe das Manifest auch als Kritik dieser Tradition, indem ihr etwas anderes gegenübergestellt wird. Kunst lehnt sich immer gegen Traditionen auf, aber hier geht es vielleicht noch um etwas anderes.
Rau: Nehmen wir Luks „Ten Oorlog“ („Schlachten!“), jetzt zwanzig Jahre her. Das war eine neue Version von Shakespeares Historiendramen, die von einem Team geschaffen wurde. Eine folgerichtige Entwicklung von Adaptionen gibt es nicht in der Theatergeschichte. Als Student in Zürich sah ich dort Schlingensiefs „Hamlet“. Da wurde Shakespeares Text in wiederum ganz anderer Weise eingesetzt, auf jeden Fall anders als bei vorherigen „Hamlet“-Inszenierungen. Jetzt habe ich gerade die Orestie bei „Orest in Mossul“ verarbeitet und benutzte dafür verschiedene Übersetzungen. Ich bin gar nicht gegen die Verwendung klassischer Texte. Ich setze sie ein, auch als Provokation.
Perceval: Verglichen mit den 1960er und 1970er Jahren, hat sich noch etwas ganz anderes grundlegend verändert. Ich habe mir „Hearts of Darkness“ angeschaut, Eleanor Coppolas Dokumentarfilm von 1991 über die Dreharbeiten von Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, und am Ende des Films sagt Coppola: In zehn oder zwanzig Jahren wird jeder eine Kamera haben und Filme machen können. Inzwischen gibt es in Amerika Festivals für mit dem iPhone gedrehte Spielfilme. Das hierarchische Modell, dass gute Kunst nur von Spezialisten gemacht wird, gilt nicht mehr. Die alte Berliner Schaubühne war sehr erfolgreich, solange sie Teil der Insel West-Berlin war. In einer Art Propagandazone des freien Westens gegen den Osten, der sie umgab. Mit dem Fall der Mauer wurde die Schaubühne Teil des großen Berlins, sie verlor damit ihren Gegner und die Aufgabe, auf bedrohliche Supermächte zu reagieren. Jetzt konnte man nicht mehr auf die Finsterlinge verweisen, die über unser Leben bestimmen. In der heutigen Welt sind wir dazu aufgefordert, uns mit Kunst im Internet zu zeigen, zugleich aber sind wir für den Klimawandel verantwortlich und in dem Bewusstsein, dass der alles durchdringende Neoliberalismus auf unserem Konsumismus basiert. Wir sind alle beteiligt und schuldig an dem, was zum Beispiel im Kongo passiert oder in Afrika insgesamt. Wir sind ein Teil davon. Das heißt auch, dass man es sich nicht so einfach machen kann wie in den 1970er Jahren, als man alles noch auf den großen Boss schieben konnte. Es ist heutzutage sogar schwieriger, den Schuldigen auszumachen, der in seinem Versteck die Fäden zieht. Die Verschleierung der Macht funktioniert heute viel raffinierter und subtiler. Wer die Fäden zieht, wissen wir nicht, und ehrlich gesagt, wir mögen doch auch unsere eigene Verschleierung. Als Theater erkennen wir diese Situation an: Okay, wenn es nicht länger möglich ist zu sagen, wer an etwas schuld ist, dann müssen wir uns selbst nach unserer Verantwortung fragen, nach unserer Rolle. Das hat die Perspektive von Theatermachern gewaltig verändert.
Das bringt mich auf das dokumentarische Theater von heute, das ja hauptsächlich von der unbekannten Gegenwart handelt, wohingegen das Dokumentartheater der 1960er und 1970er vor allem Sachverhalte aus der Vergangenheit enthüllte. Das hat vielleicht eine Entsprechung zu diesem Wandel von der Tradition der Interpretation, für die man ja auch Gewissheiten braucht, zum Erschaffen von Adaptionen als offene Systeme aus der Ungewissheit heraus, was unsere Gegenwart ausmacht. Das wäre sehr nahe an den Forderungen des Manifests, die klassischen Texte zu verwerfen, um sich der Gegenwart zu widmen.
Rau: Man hat eine Menge Möglichkeiten auch mit einem klassischen Text. Noch einmal „Schlachten!“ – die endgültige Version dieser Shakespeare-Bearbeitung war ein Ergebnis der Proben. Und auch die kann wieder adaptiert werden …
Was ja mit „Schlachten!“ auch passiert ist.
Rau: ... und jetzt wird vielleicht „Black“ von jemand anderem adaptiert. Wenn wir uns Luks Material für „Black“ anschauen, dann gibt es da diesen schwarzen Priester, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Kongo geht. Aber der ist durch die Grenzen dessen, was man damals wusste, definiert. Wir wissen viel mehr. Wir müssen alles zusammentragen für eine Sicht auf diesen Völkermord. Die nächste Version von unseren Stücken wird in der Arbeit anderer Künstler wieder anders sein. Das meine ich mit dem Gebrauch solcher Texte. Sie dürfen nicht die gleichen bleiben. Deshalb mache ich Theater. Theater als Modell, und das ist sehr brechtisch, ist auch das, was innerhalb des Teams beim jeweiligen Projekt passiert, in der Produktion, von der dann die Premiere ja nur ein Moment ist. Es ist die kleinste Einheit für eine Reflexion dessen, was die Gesellschaft über Hamlet, die Belgier im Kongo oder die Meinungsfreiheit in Russland denkt. Es geht immer darum, dass man gemeinsam zu solchen Reflexionen findet. Dann kann man das mit dem Tanzen in Handschellen vergessen.
Perceval: Lasst uns daran erinnern, dass Theater aus einer mündlichen Tradition stammt. Wir erzählen immer und immer wieder die gleichen Geschichten, auf andere Weise, in anderen Sprachen für andere Mentalitäten in anderen sozialen Verhältnissen. Dieselbe Geschichte in verschiedenen Formen. Es ist also wenig überraschend, dass auch wir das auf andere Weise tun wollen, wie ja auch das Kino seine Bildersprache in den letzten dreißig Jahren revolutioniert hat. Warum sollte Theater das nicht auch machen? Das ist der eine Aspekt. Aber die Notwendigkeit, neue Wege des Geschichtenerzählens zu entwickeln, gerät in Konflikt mit den ökonomischen Bedingungen des Theatermachens. Ökonomisch hängen wir, und da kommen wir auch auf das deutsche Theater zurück, von Abonnenten ab – die Kundschaft. Wir leben von denen, die ihr Geld dafür geben. Heutzutage leben wir in einem Teil Europas, wo die Politiker so argumentieren: Wir subventionieren die Heizkosten für euer Theater und kommen für die Kosten eurer Gebäude auf, aber wir subventionieren nicht die Kunst. Überall in Europa muss sich die Theaterkunst mit den Einnahmen vom Kartenverkauf begnügen. Aber die Mehrheit des Publikums reagiert nur auf einen Donner in den Zeitungen oder im Netz oder auf einen reißerischen Titel oder auf einen Medienstar auf der Bühne. Immer wieder habe ich in Dramaturgiesitzungen von den sogenannten sicheren Erfolgsregeln gehört. Genau diese ökonomische Abhängigkeit von „erfolgreichen“ Produktionen hat mich nach Flandern zurückkehren lassen. Die Pflicht zu einer sicheren Einnahme im Kartenverkauf ist so stark und rigide wie im Londoner West End oder am Broadway: Kommen wir mit so wenig wie möglich Probenzeit aus und reduzieren wir die Produktionskosten auf ein absolutes Minimum, und dann hauen wir das Ding raus und hoffen auf den Erfolg. Der Vorteil hier in Flandern ist, dass der Druck hier nicht so groß ist. Die Kosten sind insgesamt geringer, da fällt es nicht so ins Gewicht, ob wir jetzt für 150 oder 1000 Leute spielen. Das Thalia Theater in Hamburg muss jeden Abend 750 Zuschauer haben, sieben Tage in der Woche. Ansonsten würden sie Schulden machen, was wiederum zur Entlassung von Leuten führt. Deshalb müssen sie „Hamlet“ machen. Es erscheint lächerlich, aber das ist die Realität, mit der wir zurechtkommen müssen. Das ganze neoliberale System, in dem wir in Europa gefangen sind, hat den Raum für das Theater und seine Künstler verringert, wirklich für die Freiheit des Ausdrucks und Denkens einzustehen.
Milo Rau, stimmen Sie dem zu, dass es in Belgien großzügigere Produktionsbedingungen gibt? Sie sind schließlich in kürzester Zeit durch ganz verschiedene Modelle von Theater gegangen: von der freien Szene bis zur Arbeit an der Berliner Schaubühne und in großen internationalen Koproduktionen zusammen mit ihrer eigenen Gruppe International Institute of Political Murder. Auf welcher Basis entfalten sich Ihre Möglichkeiten hier in Gent?
Rau: Sicher, die Bedingungen hier sind ein bisschen anders. Wir haben tatsächlich auch Abonnenten, aber in erster Linie spielen wir für ein allgemeines Publikum. Als wir mit „Lam Gods“ anfingen, war das auch, dem Manifesto entsprechend, eine Geste: Ihr seid eingeladen, ihr seid das Theater. Dafür wurde es gegründet, und ihr bezahlt dafür. Der ökonomische Druck zwingt uns zu Gastspielen und Koproduktionen, und wir müssen siebzig Prozent Auslastung schaffen. Vielleicht bin ich zu idealistisch, aber ich denke, dass auch Hamburg ohne das „Hamlet“-System auskommen könnte, ähnlich, wie wir das hier mit unseren Mitteln schaffen. Das Problem ist der Apparat, und hier würde ich mit dessen Management über bullshit jobs sprechen. Mit solchen Strukturen wie dem heiligen Gral eines großen fest angestellten Ensembles könnten wir Projekte wie „Lam Gods“ oder „Black“ gar nicht machen, bei denen wir Schauspieler von außerhalb engagieren oder Laien in die Besetzung aufnehmen, wie es jeweils dafür nötig war. In der Schaubühne würde die Direktion sagen, wenn du für deine Inszenierung 14 Schauspieler brauchst, dann stellst du dir deine Besetzung aus dem Ensemble zusammen. Hier drehen wir das System um, indem wir den Gastschauspielern einen Ein-Jahres-Vertrag geben und versuchen, so viel wie möglich mit ihnen zu touren, damit sie genug Geld verdienen. Das hat sicher auch seine Beschränkungen, aber hier entstehen die aus dem, was ein Regisseur will, und nicht daraus, was ein Apparat dir zu machen erlaubt, der in rigider Weise auf Effizienz getrimmt ist.
Perceval: Dieser Aspekt verweist auf etwas, das ich im Theater oft vermisse: Notwendigkeit. Warum wurde diese Inszenierung gemacht, warum? Manchmal habe ich den Eindruck, dass etwas auf die Bühne kommt, damit die Beteiligten ihre Miete zahlen können und jeder seine Rechnungen. Das ist legitim, aber für Kunst reicht das nicht. Das ist die Grundfrage: Werden wir für Kunst subventioniert oder dafür, die Leute zu unterhalten? Unsere europäische Kultur hat die Subventionierung der Kunst dafür eingerichtet, einen Freiraum zu schaffen, der auch unsere Demokratie hinterfragt, unsere Humanität. Wir sollten hauptsächlich nach dieser Dimension des Kunstschaffens streben, mit einer besonderen Perspektive, einer besonderen Interpretation der Wirklichkeit, in einer sehr persönlichen und individuellen Ausdrucksweise. Und diese kann das Publikum nur dann inspirieren, wenn sie aus einer dringenden Notwendigkeit entsteht. Was willst du unbedingt erzählen? Da diese Notwendigkeit oft fehlt, glaube ich nicht mehr an die Kraft von großen Einrichtungen mit ihren Strukturen. Die ersticken die Kunst.
Milo Rau, Sie sind für eine projektbezogene Besetzung. Luk Perceval verstehe ich so, dass er sich noch ein langfristig zusammenarbeitendes Ensemble wünscht, das vor nichtkünstlerischem Druck und Anforderungen bewahrt werden muss. Worin besteht der Unterschied in der konkreten Arbeit hier? Schließlich war die Frage des Ensembles auch einer der Hauptstreitpunkte in der ganzen Volksbühnen-Affäre in Berlin.
Rau: Ich möchte da das Beispiel von Andie Dushime nennen, die als Laienschauspielerin in „Lam Gods“ mitmacht und nun auch bei Luk in „Black“ spielt. Das Gleiche gilt für Frank Focketyn, der schon früher mit Luk gearbeitet hat. Dass das so klappt, finde ich wunderbar. Sie stoßen zu unserem Ensemble, das im Moment aus 25 Schauspielern besteht. Das alte Ensemble haben wir aufgelöst, aber mit vielen von denen in der ersten Spielzeit weitergearbeitet, was sich wohl noch fortsetzen wird. Wenn man über Notwendigkeit spricht, dann gibt es die auch als besonderen Bedarf, bei diesem oder jenem Projekt mit bestimmten Schauspielern zu arbeiten und nicht, weil jemand besetzt wurde und am Bühnenrand darauf wartet, dass der Regisseur die Rolle für ihn oder sie erfindet. Die Notwendigkeit muss aus dem Projekt kommen, und das ist dann auch besser für alle Beteiligten und die Beteiligung der Schauspieler.
Das unterscheidet sich nun wirklich von den Verhältnissen vor dreißig Jahren, wo fest angestellte Schauspieler praktisch per Anweisung zu ihren Rollen kamen.
Rau: Als Schauspieler zur ersten Probe gingen und Angst davor hatten, was auf sie zukommt. Dieses System zu öffnen, liegt mir sehr am Herzen.
Perceval: Wir müssen dazu sagen, dass im flämischen Theater alle Ensemblestrukturen mit fest engagierten Schauspielern aufgelöst wurden. Die meisten flämischen Schauspieler sind heute Freiberufler, was heißt, dass sie kaum genug Geld verdienen. Deshalb habe ich immer ein großes Nationalensemble gefordert, wo die Schauspieler ein Grundeinkommen beziehen und dann mit den Produktionen, in denen sie spielen, zusätzliche Einkünfte erhalten. Das würde die Freiheit der Arbeit in offenen Ensembles ermöglichen, und die Theater wiederum hätten größere finanzielle Mittel für ihre Produktionen. Das wäre eine größere und offenere Vorstellung von Ensemble, nicht nur ein festes, exklusives. Ich weiß von älteren Schauspielern, die nach einer großen Karriere im Elend gelandet sind, was für ein zivilisiertes Land eine Schande ist. Das ist ein anderer Aspekt des Ensemble-Themas, das eben nicht nur die Stadttheater betrifft, von denen wir ja nur drei haben, in Gent, Brüssel und Antwerpen. Außerdem wissen wir alle, ein gutes Ensemble besteht für sechs oder sieben Jahre, maximal zehn. Das ergibt sich aus der Chemie zwischen den Leuten. Am Anfang, im ersten Jahr, so habe ich das an verschiedenen Theatern erlebt, gibt es eine große Aufbruchsstimmung, alles ist neu und jeder sehr neugierig, mit einer enormen positiven Energie. Nach zwei Jahren sind alle erschöpft, es gibt Ungerechtigkeit und Frustrationen, weil man nicht in Hauptrollen besetzt wurde. Daher glaube ich, es ist notwendig und gesund, an einem bestimmten Punkt aufzuhören. Andererseits ist ein großer Vorteil der längerfristigen Zusammenarbeit, dass ein Regisseur nicht alles von null an erklären muss und es einen fortgesetzten Dialog gibt. Das bringt ja nicht nur die Schauspieler weiter, sondern auch den Regisseur. Die Förmlichkeiten des professionellen Umgangs entfallen, und die Schauspieler werden zu Teampartnern. Man kann anfangen, zusammen ins Unbekannte zu tauchen. Ein solches Miteinander kann utopisch wirken, und das wird auch vom Publikum erkannt. Eine einzigartige Theatertruppe mit ihrer besonderen Freiheit, wie es das mit dem Living Theatre oder dem Amsterdamer Werkteater gab, inspiriert das Publikum und gibt ihm die Ermutigung, anders zu denken und sich zu verhalten, geheime Gedanken, ihre Meinung, ihr Bewusstsein auszudrücken. Das ist die vitale Aufgabe des Theaters: Bewusstsein zu schaffen. Diese Inspiration kann nur durch eine besondere Form zum Ausdruck kommen, und die besondere Form war immer das Ergebnis eines starken Ensembles, eines besonderen Zusammentreffens von besonderen Schauspielern. Und natürlich birgt auch ein Ensemble, so wie jede Familie, jede Menge Begrenztheit in sich. Wir wissen ja alle, wie schwer es ist, ein Vater zu sein, aber wollen wir deshalb keine Kinder?
Die Frage lautet also, wie kreative Energie so lange wie möglich produktiv gemacht werden kann: entweder mit einem Künstlerensemble für Langzeitentwicklungen oder einem offenen System für einzelne Projekte?
Rau: Ich denke, diese Auffassung von der großen Familie ist immer noch mit dem klassischen Kanon verbunden. Ich bin mir sicher, wir könnten mit unserem Theater auch einen guten Shakespeare und vielleicht einen großartigen Tschechow schaffen. Da ist nichts gegen zu sagen. Denken wir an Peter Steins Höchstleistungen. Sein Ensemble war von hoher Qualität mit erstaunlichen Ergebnissen. Aber mit einem solchen Konzept und seiner Begrenztheit könnten wir eben nicht solche Produktionen wie „Black“ oder „Orest in Mossul“ erarbeiten. Noch einmal, das Manifest fragt auch, welche sind unsere Texte, und legt dabei nahe, dass der klassische Kanon nicht ausreicht, weil Kongo nicht nur Kongo ist, sondern Kongo ist auch hier. Wie schaffen wir einen globalen Realismus aus unserer globalen Wirklichkeit? Und wie entwickeln wir ein Ensemble dafür? Noch eine Bemerkung über den Kanon: Wenn man sich die flämischen Klassiker im Bereich des Dramas anschaut, dann kannst du die an einem Nachmittag lesen. (Luk Perceval lacht.)
Was uns auf die Thematik von Belgiens kolonialer Vergangenheit bringt, auf die Entkolonialisierung und die gegenwärtigen Debatten über Postkolonialismus. Luk Perceval sprach schon darüber, als diese Themen hier in den Künsten noch gar nicht behandelt wurde. Sie als Schweizer haben sich ausführlich mit dem Kongo beschäftigt, mit dem größten und blutigsten Wirtschaftskrieg der Menschheitsgeschichte, und haben dazu auch einen Dokumentarfilm gedreht. Das Thema setzen Sie beide im Theater fort, Perceval mit der Trilogie „The Sorrows of Belgium“, von der „Black“ der erste Teil ist. Das ist gewiss Sprengstoff für Belgien.
Rau: Wir alle kennen die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland, diese gründliche Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel seiner Geschichte. Da gibt es hier nichts Vergleichbares. Stattdessen findet man in einigen Städten noch die Reiterstatuen von König Leopold, das würde in Deutschland Denkmälern für Adolf Hitler entsprechen. Zugleich gibt es die Sorge, dass Belgien als Nation zerfallen könnte. Das ist eine Zerreißprobe.
Perceval: Im Moment gibt es eine Debatte darüber, ob Belgien sich für die Geschehnisse im Kongo entschuldigen sollte. Dass das überhaupt infrage gestellt wurde, schockiert mich schon. Natürlich müssen wir uns entschuldigen. Dieses Land pflegt eine Kultur der Feigheit. Diese Feigheit hat ihren Ursprung im 17. Jahrhundert, als Flandern von Spanien, von den Habsburgern, beherrscht wurde. Später von den Holländern, und schließlich wurde es in zwei Weltkriegen überrannt und besetzt. Das führte zu einer Mentalität des Überlebens im Verborgenen, wo man nicht über die Wahrheit spricht. In Belgien ist es Brauch, dass eigentlich nichts erlaubt, aber unterm Tisch alles möglich ist. Das führte zu Korruption und dem Phänomen, dass schreckliche Dinge im Verborgenen bleiben, wie die Geschichte im Kongo oder in unserer Zeit der Fall Dutroux. Deshalb brauchen wir auch jemanden wie Milo, der sagt, voilà, hier ist mein Manifest. Ob ihr es nun mögt oder nicht. Das ist ziemlich unbelgisch und unflämisch. Aber das Land braucht das. Und für ihn ist das einfacher als für mich. Wie es für mich einfacher war, Fallada in Deutschland auf die Bühne zu bringen als Nichtdeutscher.
Rau: Es ist immer wieder eine Überraschung, hier zu hören: Oh, das haben wir ja gar nicht gewusst. Während der Reichtum Belgiens auf seiner kolonialen Vergangenheit ruht. Einen Konflikt gab es auch wegen des Dschihadisten in „Lam Gods“, der auf der Bühne den Kreuzfahrer in van Eycks fast sechshundert Jahre altem Gemälde repräsentiert.
Als Luk Perceval vor zwanzig Jahren in Deutschland anfing, sagte er, das Gute am flämischen Theater sei, dass es mit keiner Tradition belastet ist. Man kann aus einer Underdog-Position arbeiten und muss sich um keine große Tradition scheren. Luk Perceval, ist das immer noch so, nachdem das flämische Theater inzwischen gut bekannt und in ganz Europa geschätzt wird?
Perceval: Das ist immer noch so. Wenn ich mir das Belgien von heute anschaue mit seinen französischsprachigen und niederländischsprachigen Teilen, dann sind das zwei verschiedene Länder. Man muss dazu wissen, dass Flämisch offiziell erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs als Landessprache behandelt wird, das ist nicht einmal 75 Jahre her. Von Vorteil dürfte dagegen sein, zusammen mit dem schmalen Kanon, dass es kein ausgesprochen bürgerliches Publikum gibt, das nach einem bestimmten Kulturstandard verlangt. In Paris gibt es einen großen Teil des Publikums, der seinen klassischen Racine so sehen will, wie er ihn kennt. Das kulturelle Bewusstsein ist hier vielleicht weniger ausgeprägt, aber dafür gibt es auch keine so festgelegten Erwartungen. Ein weiterer Aspekt ist die Entwicklung des flämischen Theaters seit den 1980er Jahren unter dem starken Einfluss des Tanzes. Das hat das Schauspieltheater bereichert, vielleicht mehr als anderswo, und Inszenierungen wurden immer mehr zu einer Art Performance. Was wiederum zu anderen Auffassungen davon führte, wie man klassische Stücke inszeniert. Jeder weiß, wie die wichtigen Choreografen Jan Fabre, Alain Platel und Anne Teresa De Keersmaeker das beeinflusst haben. Das hat das flämische Theater sehr physisch gemacht. Und noch dazu: Wir haben keine bürgerliche Hochsprache wie in Deutschland das Hochdeutsch oder das Oxford Englisch für das Theater in Großbritannien oder das Sprachvorbild der Académie française, das alles gibt es hier nicht. Das ist auch der Grund, warum meine Generation angefangen hat, Stücke in der Sprache des Publikums zu spielen. Wir haben Tschechow im flämischen Dialekt gespielt. Daraus entstanden sehr authentische Inszenierungen, die man sogar in Russland gut aufnahm.
Rau: Die Sprachensituation in Belgien macht es leichter, Sprachen im Theater zu vermischen. Für mich als Schweizer ist das ideal. Die Sprache steht hier im Theater nicht an oberster Stelle, wohingegen Deutsch als Literatursprache in großen Teilen des deutschen Theaters weiterhin vorherrscht.
Perceval: Ein Teil meiner Theaterutopie ist, eine neue Sprache zu entwickeln, die man überall versteht, ein neues Theater-Esperanto. Wenn ich in Russland arbeite, spricht kaum jemand Englisch, und ich beherrsche nur ein paar Wörter in Russisch. Aber ich mag diese Situation, wenn Leute unbedingt miteinander reden wollen, ohne eine gemeinsame Sprache zu haben. Ich mag, dass wir alle in diesem Euro-Englisch sprechen, welches wir aus verschiedenen Herkünften improvisieren, eine Sprache der Notwendigkeit, um miteinander zu verkehren und als Gemeinschaft zu wirken. Sprache ist in diesem Sinn ein Ausdruck von Liebe, der positiven Neugier, einer Notwendigkeit, sich zu verstehen, als Überleben.
Wenn wir das in einem größeren Kontext sehen, dann wird doch klar, dass dieses internationale Theater, das Sie beide verwirklichen wollen, etwas ist, das von der Idee Europas noch übrig ist. Obwohl die Kultur in diesem europäischen Prozess insgesamt unterbelichtet bleibt und Theater darin eine sogar noch geringere Rolle spielt. Es könnte ja als etwas gesehen werden, das Sprachen verbindet und eine Mobilität für das Überschreiten von Kulturgrenzen demonstriert. Sehen Sie das als eine Aufgabe von Theater, selbst wenn darin auch ein Schuss Egoismus steckt?
Rau: Ja, aber ich würde das global fassen. Ich bin überzeugt, dass Theater eine Gegenkraft im heutigen Kapitalismus sein kann. Kapital ist überall und kennt keine Nationen. Als ich im Kongo ankam, sah ich, dass alle unsere großen Unternehmen schon da waren. Das Theater sollte in dieser Welt ein Gegengewicht bilden. Eine Utopie dessen, was der Kapitalismus einmal wollte: liberales Denken für eine freie Gemeinschaft von Einzelnen. Tatsächlich haben wir aber ein System der Macht, das vom Neoliberalismus geprägt ist. Im Theater kann man jedoch mit der gleichen Vision des internationalen Austauschs ein gerechteres Modell der Solidarität schaffen. Das wäre humanistisch. Um es noch mal zusammenzufassen: Theater ist nicht dafür da, Geld zu verdienen oder den Kanon fortzusetzen, und auch nicht dafür, Konkurrenz zu erzeugen. Es sollte ein anderer Raum sein, wo Ausprobieren und Zuschauen die höchsten Werte sind. Ich lerne gerade mehr und mehr über diese Utopie, auch wenn klar ist, dass die Idee dieses internationalen Theaters ja keinesfalls neu ist. Sie wurde nur nicht verwirklicht, weil unsere Tradition nationaler Theaterkulturen verhindert hat, Grenzen zu überschreiten.
Perceval: Reisen macht einen bescheiden. Im russischen Theater konnte ich erkennen, wie privilegiert wir sind mit unseren Arbeitsbedingungen in Westeuropa. Und zugleich war ich mit all den Klischees von Russland konfrontiert. Am Anfang war ich überhaupt nicht begeistert davon, dort zu arbeiten, auch wegen der massiven Vorurteile, die ich hatte. Aber dann lernst du Russen kennen, sprichst mit denen und entwickelst ein komplexeres Verständnis für die Dinge dort. Es entsteht Respekt – ist das nicht auch ein Anliegen von Theater? Zu verstehen, den anderen zu erkennen, die ängstliche ego-basierte Perspektive aufzugeben und den anderen als Selbst zu entdecken? Ein solch tieferes Verstehen öffnet dein Herz und deinen Geist.
Rau: Ich habe gerade im Süden Italiens meinen Jesus-Film vorbereitet. Da gibt es tatsächlich eine halbe Million neuer Sklaven, und mein Hauptdarsteller war einer von ihnen. Der sagte nur: Wissen kannst du das nicht, nur erfahren. Mehr kann man nicht dazu sagen.
Aus dem Englischen von Thomas Irmer.