Theater der Zeit

Auftritt

Nürnberg: Autors Stellvertreter

Staatstheater: „Der unsichtbare Reaktor“ von Nis-Momme Stockmann und Jan-Christoph Gockel (UA). Regie Jan-Christoph Gockel, Bühne und Kostüme Julia Kurzweg

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Bayern Theaterkritiken Staatstheater Nürnberg

Menschliche Hybris als hybrides Theater: Llewellyn Reichman in „Der unsichtbare Reaktor“ von Nis-Momme Stockmann, Regie Jan-Christoph Gockel am Staatstheater Nürnberg.
Menschliche Hybris als hybrides Theater: Llewellyn Reichman in „Der unsichtbare Reaktor“ von Nis-Momme Stockmann, Regie Jan-Christoph Gockel am Staatstheater Nürnberg.Foto: Konrad Fersterer

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Die Welle kommt näher und näher, wird größer und größer, während sie in verschiedenen Gassen vorüberzieht, derweil das Chanson „La Mer“ in aller Künstlichkeit aus dem Synthesizer plätschert. Es ist: „Die große Welle vor Kanagawa“, das Motiv des Malers Katsushika Hokusai (um 1830), eingespannt in und für eine barocke Kulissenbühne, die sie für diese Aufführung in einem modernen (bis 2010 generalsanierten) Schauspielhaus zitieren und adaptieren. Darin gaukeln sie uns, mit Seilen und hölzernen Zahnrädern am Portal, Instrumente einer solchen Bühne vor. Später wird eine(r) auf einer Pappwolke durchs Bild gondeln, eine Videoleinwand im Goldrahmen hängen, Schwarzes und Schattentheater eine Rolle spielen.

Wir sehen einen Abend über menschliche Hybris als hybrides Theater: barock und modern, faktenübersättigt und hyperfiktionalisiert, vom Scheitern an, in und mit Fukushima ebenso handelnd wie von dem, daraus Theater zu machen. Und im Hintergrund liefern sie gleichsam das Negativ einer Erzählund Dramentheorie mit.

Es ist hier der Autor Nis-Momme Stockmann selbst, der sich attestiert, er sei im Begriff, literarisch zu scheitern, um sich darin zugleich vehement zu widersprechen: vervierfältigt in den Schauspielern Julia Bartolome, Moritz Grove, Llewellyn Reichmann und Raphael Rubino, die seine Frisur als Latexperücken, seine Kleidung mit karierten Hemden als steife Comic-Kostüme auftragen. Vier Personen suchen einen Autor, der sie selbst sind, ein Autor sucht sich in vier Persönlichkeiten.

„Ich arbeite seit einer langen, langen, langen, langen, langen, … Zeit an dieser Sache“, klagt sich Stockmann in wiederholten Spiegelungen sein Leid. „Und ich bekomme den Eindruck: Je länger ich daran arbeite, desto schwieriger wird es für mich, dazu durchzudringen, worum es überhaupt geht bei alledem.“ Die Sache, das ist Fukushima, ein Kernreaktor der gleichnamigen Stadt in der gleichnamigen japanischen Präfektur. Ein Jahr, nachdem 2011 ein Erdbeben einen Tsunami auslöste, der eine Katastrophe auslöste, war Stockmann vor Ort, weitere vier Jahre später ein zweites Mal.

Dabei schuf er sich seine eigene Flutwelle, ertrank beinahe im eigenen Material: Reisetagebücher, Video-, Ton- und Fotoaufnahmen, Unmengen von Notizen zu den Notizen, die er sich zu seinen Notizen machte. Und keine Idee, was damit anzufangen. Nur die Erkenntnis: „Selbst, wenn man alle Fakten kennt, heißt das noch nicht, dass man damit der Wahrheit nähergekommen ist.“

Erst eine dritte Reise nach Fukushima verfolgte 2021 endlich ein konkretes Ziel, das auf der Bühne des Nürnberger Schauspielhauses liegen sollte. Die Pandemie bremste sie aus. Rettung versprach Ishii Yuichi, Schauspieler und Geschäftsmann in Tokio, den Werner Herzog ins Zentrum seiner inszenierten Dokumentation „Family Romance, LLC“ gerückt hatte. Diese Agentur vermittelt Schauspieler als Stellvertreter für Familienmitglieder. Man kann sich hier zum Beispiel einen Vater fürs Kind mieten. Stockmann mietete sich Ishii als einen Stockmann, der ihm so gar nicht ähnelt, als sein von der Kamera begleitetes Double aber wirksamer wird als das Original und dabei die These „Wahr ist es, wenn man da war“ gehörig durchschüttelt.

Und so wird schließlich in diesem Stück, an dem der Zufall mitschrieb, alles Dokumentarische zur Finte. Stockmann und der für sein Konzept des Reisetheaters besonders bekannt gewordene Regisseur Jan-Christoph Gockel erzählen in „Der unsichtbare Reaktor“ von der Fukushima-Katastrophe allenfalls als Exempel: für die Konstruktionen von Wirklichkeiten, mit denen sie hier spielen, getragen vom leisen, hintersinnigen Humor der Stellvertreter-Schauspieler, der ihr verzweifelt ernsthaftes Bemühen, allen Irrungen und Wirrungen zu entkommen, grundiert. Droht das Filmmaterial den Abend mitunter auch zu dominieren, so gelingt ihnen doch oft genug eine geschickte Synchronität, Parallelität oder auch Verschränkung von Leinwand und Bühne.

Der Reaktorunfall jedenfalls, der „für uns in Deutschland so präsent“, vor Ort aber „beinahe unsichtbar“ scheint, entschwindet allmählich aus dieser Aufführung. Sie legt sich darüber wie eine große Welle. //

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