Theater der Zeit

kunstinsert

BRACK IMPERieT

Über „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller am Norske Teatret Oslo

von Thomas Oberender

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Performance Sprechtheater Europa Theaterkritiken Dossier: Kunstinsert

Die Inszenierung von „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller am Det Norske Teatret Oslo.
Die Inszenierung von „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller am Det Norske Teatret Oslo.Foto: Per Heimly

Anzeige

Der Besuch der Aufführung von „Hedda Gabler“ begann im Foyer des Theaters mit einer Ausstellung. Sie zeigte auf Stellwänden unmittelbar vor den Türen zum Saal acht übergroße Zeichnungen, freie Versionen klassischer Filmplakate, darunter mehrere Plakate der „Rambo“-Serie, „Rocky“, „Top Gun“, „Alien“, „Attack on the 50 ft. Woman“, „Pulp Fiction“ oder „81/2“. Vegard Vinges mit Edding-Stiften gemalte Plakate wirken naiv und brachial und zeigen Schauspielerikonen des Mainstream-Kinos, die Inbilder der Rebellion und Andersartigkeit darstellen. Sie sind als Figuren und Denkfiguren Teil eines Privat-Pantheons von Vinge/Müller, dessen Heldinnen eine mythische Größe entwickeln. Darin sind die Künstler ihrem Autor Henrik Ibsen sehr nahe, der monumentale Stücke wie das Julian-Drama „Kaiser und Galiläer“ schrieb, eine Wikinger-Tragödie oder ein Versepos über den religiösen Fanatiker Vikar „Brand“ – all diese Stücke haben heroische Figuren der Geschichte neu interpretiert, bevor Ibsen in seiner späteren Schaffensphase dieses antike Heldenprofil in seinen bürgerlichen Zeitgenossen entdeckte, was ihn weltberühmt machte. Interessanter Weise sind es diese skandalträchtigen Lebenswelten der bürgerlichen Schicht aus Ibsens Spätwerk, denen seit mehr als 25 Jahren Vinge/Müller ihr gesamtes inszenatorisches Schaffen widmen. Das ist ungefähr so unwirklich, wie die Vorstellung, dass Frank Castorf nie aufgehört hätte, Fjodor Dostojewski zu inszenieren oder Jürgen Gosch nie etwas anderes als die Stücke von Tschechow aufführen wollte.

In diesem Sinne sind Vinge/Müllers Langzeit-Meditationen über Ibsens Werk ein einzigartiges Phänomen in der Theaterwelt und nutzen diese Dramen aus der kapitalistischen Gründerzeit zur Analyse des spätmodernen Kapitalismus von heute. In seinem „mythologischen“ Kosmos schuf Ibsen bürgerliche Archetypen und Gegenhelden, Volksfeinde und Peer Gynts und dieser Figurenkosmos wird im Werk von Vinge/Müller Jahr für Jahr größer, wovon ihre Foyer-Ausstellung Zeugnis gibt: So annonciert eine Plakat-Version von Fellinis „Achteinhalb“ das Werk als eine Produktion von Ragnar Brovik, also einer Figur aus Ibsens „Baumeister Solness“. Direkt am Saaleingang und genauso auf der Website des Theaters prominent zu sehen ist eine „Pulp Fiction“-Plakat-Variante, die den 7. Teil der Ibsen-Saga von Vinge/Müller unter dem Titel „General Gablers Tochter“ ankündigt. Das Plakat zeigt eine Diva im Bettie-Page-Stil, die ein eisernes Kreuz mit umgekehrtem Hakenkreuz um den Hals trägt und ein aufgeklapptes Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“ in den Händen hält. Daneben liegt die berühmte Pistole des Generals, mit der Hedda Gabler sich am Ende erschießen wird. Hinter ihrem nackten Gesäß kniet ein nackter Mann am Bildrand, und womit er beschäftigt ist, erklärt eine Sprechblase: „Løvborg eating Hedda’s ass out.“ Was in Ibsens Stücken latent angelegt ist, die vielen Leichen unterm Teppich, die mühsam moderierten Skandale, die in den Stücken irgendwann explodieren, eskaliert in den Aufführungen und Plakaten von Vinge/Müller bereits in der ersten Minute.

Wie weit ihre Auseinandersetzung mit dem Stück „Hedda Gabler“ in der Arbeitsgeschichte der Künstler zurückreicht, verrät sich in einem unscheinbaren Plakat-Detail: Eintrittspreis 16 Euro, was erkennen lässt, dass dieses Pulp-Fiction-Hedda-Gabler-Plakat bereits 2018 gestaltet wurde, als die Aufführung noch als ein Projekt geplant war – „Produced by 12-Spartenhaus“, also während der Jahre der Residenz von Vinge/Müller im Berliner Prater.

Die Überfrauen und Übermänner dieser Plakate sind Kämpfende nach eigenem Gesetz, wie Julian Assange, dem der „Hedda“- Abend in Oslo gewidmet ist. Die drastische Körperlichkeit und Sexualität der Plakat-Bilder, die am Norske Teatret ausgestellt werden, ist zudem ein Hinweis auf jene besondere Bedeutung des Leibes, der in den Aufführungen von Vinge/Müller zum Organ der Befreiung wird. Darauf deuten die Plakat-Verweise auf Otto Mühl oder die Erlösungsmütter mit ihrem „squirting Rheingoldjuice“ hin: Es sind Reinigungsritual-Plakate, Bilder von Männern und Frauen, die aufräumen und ausbrechen wie Rambo oder Sigourney Weaver in ihren Filmrollen. Die Aufführung von Vinge/Müller stellen auf ihre Weise eine vergleichbare Form von Intensität her, wie sie von diesen Filmklassikern der Populärkultur ausgeht. In ihren Aufführungen dehnen Vinge/Müller die Zeit und lösen sie auf in Momenten einer Kommunion von Werk, Aktion und Publikum. Ihr dafür geschaffener Theaterraum gleicht eher einem Multiplex, in dem Film, Szene und Sound eine energetische Apparatur erzeugen.

Ihre Aufführungen sind wie diese Zeichnungen extrem drastisch und zart zugleich. Das Wesen dieser Plakatidole ist bis ins kleinste Detail gestaltet und strotzt zugleich von sexueller und assoziativer Energie. Die Figuren und Elemente scheinen auf jedem Poster den Rahmen des Bildes sprengen zu wollen. Vinges eigentümliche Bildwelt zwischen Pop und Comic kreiert einen gleichbleibenden Stil, der knallbunt und kindlich ist, lustig und listig und mit starken Affekten spielt, jenseits des bürgerlich Beruhigten.

Vorm Vorhang

Beim Betreten des Saales sind die abwaschbaren Vorhänge vor der Bühne geschlossen und läuft aus dem Soundtrack von Kubricks „Eyes Wide Shut“ das düstere Stück „Masked Ball“ der britischen Komponistin Jocelyn Pook. Im Film erklingt es, während Tom Cruise am sexuellen Ritual einer Geheimorganisation teilnimmt, deren Mitglieder schwarze Capes und venezianische Augenmasken tragen.

Ähnlich unnahbar hinter Clownsmasken und roten Perücken verborgen sitzt hinter der letzten Reihe der Zuschauertribüne das Regieteam hinter den Steuerpulten für Licht, Ton und Video an den Reglern. Auf dem Vorhang ist die Projektion eines Mannes in schwarzem Cape und Augenmaske zu sehen, der aus Kubricks Film stammen könnte und finster in den Saal blickt. Zu ihm scheint am Geländer der rechten Galerie ein handgemaltes Plakat zu gehören, das ein Dreieck zeigt, über dem „Trekanten“ steht und darunter: „BRACK IMPERieT“. Wieso regiert Brack, der Hausfreund der Gablers? Während das Publikum auf der Tribüne Platz nimmt, teilt eine Einlasserin an die Gäste in der ersten Reihe durchsichtige Regencapes aus. Dann ertönen technisch verzerrte Begrüßungsworte aus den Lautsprechern, die live von einer Spracherkennungssoftware als Text auf eine Leinwand projiziert werden.

Die Aufführung beginnt mit einem Film, der, wie den Geräuschen zu entnehmen ist, live hinter dem Vorhang gedreht wird. Vor den Flaggen Norwegens und der USA zapfen sich die Darsteller des Assessors Brack und Jørgen Tesman Blut ab. In Großaufnahme ist das Setzen der Nadel und das Hervorklopfen des Blutes aus der Vene zu sehen, und schließlich malt Tesman, das Schlauchende seines Katheters wie einen Filzstift benutzend, mit großen Blutbuchstaben seinen Namen aufs Vertragspapier. Ein Pakt wird geschlossen, dessen Mantra „I love America and America loves me“ lautet. Brack ist hier nicht nur der stille Hausfreund im Hause Gabler, sondern der Zeremonienmeister eines größeren Bundes. Am Ende erhält der Novize einen Koffer voller Geld. Die dünnen Latexmasken der Darsteller wirken, anders als in früheren Stücken von Vinge/Müller, individueller und sind nicht sofort als Masken erkennbar, sondern erscheinen wie ein zweites, geheimnisvolles Gesicht. Bracks Maske erinnert an den jungen Sean Connery und Tesman entfernt an Quentin Tarantino. Teil des Paktes ist das Verfrachten einer lebensgroßen Puppe von Julian Assange in einen Käfig mit der Nummer 93. Er trägt die Adresse des königlichen Hochsicherheitsgefängnisses Belmarsh in London, aus dem in Kürze Assange an die USA ausgeliefert werden wird. Und Teil des Deals ist auch die Demütigung Tesmans durch die finstere Brüderschaft der „Trekanten“, deren Mitglieder ihm wenig später seinen Kunstidealismus austreiben und ein Sturmgewehr in den Anus einführen.

Dieses Vorspiel erzeugt für Ibsens „Hedda Gabler“ ein ungewöhnliches Framing, in dem Brack die zentrale Rolle einnimmt. In Ibsens Stück wird er am Ende des Dramas Hedda erpressen und versuchen, sie zu seiner Mätresse zu machen. In Vinge/Müllers Lesart ist die Familie und Hedda von Anfang an in seiner Hand, wie überhaupt das gesamte Land von einer klandestinen Organisation regiert wird, deren Zeremonienmeister dieser Assessor Brack ist, ein Widergänger des okkulten Klubs der Mächtigen aus Kubricks „Eyes Wide Shut“. Ibsens Nebenfigur ist hier vom Juristen und Staatsdiener zu einem modernen Paten geworden, zum Gesicht eines unsichtbaren Systems, das mit Gewalt, Propaganda und Geld an verborgenen Strippen zieht. Dieser Brack trägt eine stoisch lächelnde Maske und elegante Anzüge und nimmt sich, was er will.

Nach dem Backstage-Kino wechselt dann die Sprache der Aufführung, und auf kleinen Skizzenblättern des Storyboards beginnt eine Reise durch das 130 Jahre alte Stück im Schnelldurchlauf. Der vorproduzierte Trickfilm animiert die Zeichnungen von Vegard Vinge in einer schrägen und zugleich handfesten Stücklektüre: Im ersten Akt erscheint die Generalstochter Gabler als Tochter von Papa General Patton. In den Skizzenbildern des zweiten Akts sieht man, wie Hedda ihren ehemaligen Geliebten Løvborg erschießt, im dritten Akt kommt es zum Duell zwischen Hedda und Løvborgs neuer Gefährtin Thea Elvsted, die mit ihm in den Wäldern lebt, fern von den Städten. Das daraus abgeleitete Thema „Free in the woods“ verbindet die Aufführung mit einem Exkurs über freies Theater und die Inhaftierung Assanges, während das gesamte Personal des Stücks vorm Vorhang in einer Reihe auftritt und ein E-Gitarrensolo erklingt, bis zur Überraschung aller plötzlich von der Kommandobrücke eine Pause angesagt wird.

Das Bühnenbild

Mit frischem Bier in den Gläsern kehren die Besucher und Besucherinnen aus dem Foyer zurück, während auf dem Vorhang schon Szenen aus dem ersten Akt zu sehen sind, die im Inneren des Bühnenbilds live gefilmt und auf der Kommandobrücke des saalbreiten Regiepults vertont werden. So werden, wie auch in den früheren Aufführungen von Vinge/Müller, alle Schritte und alltäglichen Handlungen der Figuren mit artifiziellen Geräuschen unterlegt und die Texte von einer externen, technisch verfremdeten Stimme eingelesen. Nichts ist natürlich an diesem kreatürlichen Spiel, der individuelle Darsteller bleibt hinter der Maske verborgen, und sein menschliches Verhalten ist in allen Lebensregungen artifizell, ganz so, als würde man Puppen beim Spielen zuschauen, mit der gleichen, geheimnisvollen Aura. In den projizierten Livebildern, in denen sie spielen, wird nun auch das Szenenbild der Aufführung hinter dem Vorhang sichtbar, das sich von früheren Bühnenbildern des Teams stark unterscheidet. Ida Müller hat das Haus der Familie Tesman wie ein realistisches Filmset eingerichtet, mit traditionellen Möbeln und modernen Bildern und Postern an den Wänden, einer funktionierenden Küche und einem Arbeitszimmer mit DVD-Regalen. Einzig die maskierten Figuren mit ihren überzeichneten Kostümen erinnern noch an die Ästhetik früherer Aufführungen, in denen das komplette Set und Kostüm aus handbemalten Materialien bestand.

Der Film auf der Leinwand zeigt den ersten Auftritt Bracks, der, nicht unähnlich der Raute von Ex-Kanzlerin Merkel, mit seinen Händen die Form eines Dreiecks bildet, während er mit der Stimme Darth Vaders spricht. Løvborg hingegen, der an der Seite seiner Landliebe Thea erscheint und aussieht wie der beleibte Troll aus Ali Abbasis Film „Border“, macht klar, dass mit ihm, dem das Blut aus den Mundwinkeln tropft, eine Figur erscheint, mit der kein Vertrag zu schließen ist. Mit Løvborg klopft das wilde Norwegen an die Türen des bürgerlichen Salons. Und damit, mehr als zwei Stunden nach Vorstellungsbeginn, öffnet sich der Vorhang.

Das Freilegen der Szene

Blendendes Licht strahlt aus der Bühnentiefe, und das Knistern des Vorhangstoffs wird, wie jede Bewegung auf der Bühne, von der Regiebrücke verstärkt und ins Unwirkliche überhöht. Dazu erklingt Musik von Ligeti, und wie ein kompakter, schwarzer Block erscheint nun das auf allen Seiten geschlossene Set, in dem sich die Szenen im Hause Gabler in den vergangenen zwei Stunden abgespielt haben. Von einer fahrbaren Beleuchterbrücke aus springt eine Figur durch die Deckenplatte ins Haus, Staubwolken steigen aus der Öffnung, und dann werden in die Rigipsplatten der Frontseite des Hauses scheinbar Löcher geschossen. Wie Sternenlicht funkelt es aus ihnen hervor, dann tritt Hedda vor die Bühne, nackt unter ihrer Maske und ihren Perlenketten, und schlägt mit einem Hammer von außen weitere Öffnungen in die Wand, ein mühsamer, legerer und aggressiver Vorgang zugleich – Babygejammer ist von drinnen zu hören, Hedda ist schwanger und plötzlich schließt sich der Vorhang wieder, just, als es losging mit dem Stück auf der Bühne. Zweite Pause, noch immer geht es nicht ins Haus.

Wenige Minuten später treten vor dem Vorhang die nackten Männer des Ensembles an. Sie tragen Masken und stehen in militärischer Grundposition, während General Gabler hoch zu Pferd, einem großen, schwerblütigen Gaul, auf der kleinen Bühne dieser Kammerspiele an ihnen vorüberreitet. Hedda salutiert, und scheinbar wahllos erschießt General Gabler nebenbei einen seiner Soldaten. So geht es Runde um Runde, und jeder Tote wird, während der Vater mit dem Pferd zur nächsten Wiederkehr reitet, von Hedda ausgiebig mit Blut aus der Flasche bespritzt, wie auch die Gäste in der ersten Reihe, die sich blitzartig ihre Capes überwerfen. Vorhang, und wieder Bilder aus dem Inneren der Villa als Projektion. Die Kamera zeigt Tante Julle in der Küche, Tesman im Arbeitszimmer und dann das Pferd des Generals samt Reiter in Heddas Schlafzimmer. Sie liegt auf ihrem Bett mit dem vergoldeten Stahlrohrgiebel, und sie zupft sich gelangweilt die blonden Strähnen ihrer Perücke, bis ihr der Vater die Pistole reicht.

Draußen, auf der Seite des Publikums, tritt ein Techniker auf und schneidet mit einer elektrischen Handsäge elegante, organische Öffnungen in die Gipskartonplatten der Hausfront. Dahinter ging ungerührt das Studienleben Tesmans und das Küchenwerk von Tante Julle weiter. Zwischendurch malert sie die ungestrichenen Wände der neu bezogenen Villa, Hedda fläzt inmitten einer imposanten Waffensammlung auf ihrem Bett, während Brack erscheint und in einer Filmprojektion zu sehen ist, wie sich der verzweifelte Troll Løvborg, von Hedda aus der Bahn geworfen, im dunklen Wald betrinkt und seine Gefährtin Thea daran verweifelt. All diese Vorgänge ereignen sich simultan in den drei nebeneinander liegenden Räumen und auf der großen Leinwand darüber. In diesem Tableau geschieht alles gleichzeitig, und doch wird jedes Ereignis für sich gefilmt, vertont und synchronisiert – im Saal riecht es nach den gebratenen Eiern von Tante Julle, und in einer Projektion steht zu lesen: „Forgive us, Julian“. Vorhang.

Große Oper auf kleiner Bühne

In einem Sack, so groß wie ein Wetterballon, schleppt der brave Akademiker Tesman das verlorene Manuskript Løvborgs über die Vorbühne, verheddert sich, stürzt, steht auf und trägt schwer an jenem großen Werk seines Konkurrenten, welches das Unglück ihm in die Hände gespielt hat. Drinnen im Haus befriedigt sich Brack an Hedda und überreicht ihr zum Dank eine goldene Uhr – Hedda ist, wie alle in diesem Haus, die Prostituierte seines Systems, und ihr Mann Tesman, endlich zu Hause, versucht tapfer, nichts zu bemerken, und verschenkt lieber die kostbaren DVDs aus der Sammlung des Regisseurs an das verdatterte und dankbare Publikum.

Der Pakt, den Tesman in seiner Tarantino-Maske mit Brack geschlossen hat, erinnert an den Pakt, den der „Pulp Fiction“-Regisseur mit Harvey Weinstein schloss – es sind diese Nebenbezüge, dieses überraschende Näherbetrachten der eigenen Idole, die inmitten der brachialen Ereignisse subtil verstörende Zeichen setzen. Subtil ist die Aufführung auch in Momenten, da für einige, lange Augenblicke plötzlich eine Tür quietscht und „nichts“ passiert, oder eine klassische Arie erklingt, in der die Zeit stillsteht und sich die Kämpfe der Figuren mit anderen Mächten verbinden. So, wenn in einer burlesken Szene, während derer sich die seltsamen Milchbrüste von Tante Julle, die ihre Milch bis auf die Klarsicht-Capes der Besucher im Saal versprühen, sich unter den Lippen ihres Schösslings Tesman von einer lustigen Maschine in die echten Brüste der Darstellerin verwandeln und dazu Purcells gnadenvolle Arie „ Remember Me“ aus „Dido und Aeneas“ erklingt.

Lachen schlägt um in Schrecken und Schrecken in Rührung, und in diesem frappierenden Parcours der Extreme erlebt das Publikum die Vorgänge in Ibsens Stück wie zum ersten Mal. Die Besucher wie die Aufführenden selbst unternehmen in Vinge/Müllers Inszenierungen eine Reise in das Hinterland des Textes, in die Jugendzeit der Generalstochter oder die Wälder des Aussteigers, und machen dabei die Erfahrung eines realen Risikos. Denn die Künstler haben für sich selbst eine entsicherte Praxis der Aufführung entwickelt, in der strukturell kein Abend dem anderen gleicht, da jeder Abend seine Elemente aus einem Gesamtfundus von Szenen und Material neu zusammenstellt und entsprechend der Begegnung mit dem Publikum neu mixt. Diese Form von Echtzeit-Regie ist wahrscheinlich einzigartig in der gegenwärtigen Theaterwelt. Sie erzeugt ein ums andere Mal originale Aufführungsvarianten, deren Herstellung live und situativ erfolgt und einer Risikodramaturgie folgt. Wie in einem Computerspiel wird die nächste Szene wie ein Quest begriffen, bei dem die Lösung der Aufgabe immer Teil einer Suche bleibt, die die Spielenden nach vorne treibt.

Einige Gäste der Vorstellungen vom Vortag haben beschrieben, dass das Stück nahezu „vom Blatt“ gespielt wurde und schon nach vier Stunden endete. An diesem Abend war nach vier Stunden der vierte Akt noch lange nicht in Sicht. Es war die letzte Aufführung in dieser Osloer Vorstellungsserie, und es wirkte, als ob das Stück an diesem Abend nie enden sollte.

In einer Bankettszene betrinkt sich Løvborg in Heddas Haus, und das Dinner gipfelt in einer Schaumbadorgie, deren glitzernde Seifengischt sich aus den Öffnungen des Hauses nach draußen ergoss. In diesen Momenten, zwischen all den Filmen, Figuren und Sounds, entwickelt die kleinste Bühne des großen Norske Teatret eine Opulenz der Mittel wie eine große Opernproduktion. Und plötzlich stürmt Vegard Vinge in seiner pausbäckigen Kindermaske unter einer Wuschelkopfperücke auf die Szene und tritt von der Seitenbühne aus heftig an die Wände von Tesmans Arbeitszimmer, wodurch aus den Regalen Hunderte DVD-Hüllen seiner privaten Sammlung in den Schutt stürzen.

Die Zerstörung des Freigeistes Løvborg in dieser Bankettszene zeigt die Aufführung als einen Kampf und sängerischen Battle zwischen Hedda und Løvborgs Lebensstütze Thea, die schockiert erlebt, wie ihr Idol in den Abgrund stürzt und sich in einem Blutsturz aus seinem Unterleib auf der Bühne windet. Sie verfällt darüber in ein Lied, das live, auf der Kommandobrücke gesungen, zu einem Popsong wird, bis sich die Klänge von den Wörtern lösen und nur noch ein jämmerlicher Sound zu hören ist, die abstrakte Klage einer Kreatur, die zu tief in die Wahrheit der Verhältnisse geschaut hat. Hinter der Bühne verhallen ihre Schreie, während Jocelyn Pooks düstere Chöre aus „Eyes Wide Shut“ aufklingen, zu denen der nordische Pate Assessor Brack unterm Kubrick-Cape erscheint. Wie in „Eyes Wide Shut“ umspielt und vollzieht die Zeremonie, die nun auf der Bühne beginnt, ein Frauenopfer, und bei Vinge/Müller ist Hedda das Opfer. Sie überschüttet ihren Körper mit heißem Kerzenwachs, jeder Tropfen wird vom Regiepult mit den Tönen der Laserkanonen aus alten Computerspielen unterlegt, und die Live-Kamera zeigt die Wachsrinnsale auf Heddas Haut groß auf der Leinwand.

„Schönheit!“

Wie in Kubricks Film beruht die Macht der Männer unter der Kapuze in dieser Szene darauf, dass ihr Geheimnis gewahrt wird, dass kein Bild von ihnen nach draußen dringt: Die vielen Stunden dieses unberechenbaren Rituals bleiben unter dem Schleier einer Zeugenschaft, die nur die jener im Theater Anwesenden ist. Vinge/Müller achten seit Jahren darauf, dass keine Bühne, kein Festival oder Theaterzeitung zu viel Bildmaterial von den Aufführungen bekommt, und diese Momente des Abends landen nie auf YouTube. Die brachialen und zugleich subtilen Substanzen ihrer riskanten, strukturell ritualhaften Theaterabende ist nur ansatzweise vermittelbar. So auch jenes Moment, da nach Bracks Frauenopfer Vegard Vinge plötzlich selbst auf der Szene erscheint und wie als eine Art Gegenzauberer auf die Bühne scheißt und sich in den Mund pinkelt, bevor er mit seinen Exkrementen und viel Farbe im Arsch ein Porträt übermalt, bis sich der Vorhang über die Szene legt. Zur übergroßen Projektion des malträtierten Gemäldes, dessen Zustand man förmlich zu riechen scheint, hält Løvborg eine Rede über die Freiheit der Kunst. Vegard Vinge stapft dazu über seine DVD-Sammlung am Boden des verwüsteten Studierzimmers: Als ob der Abend dieses letzte Opfer brauchte; aber es war nicht das letzte.

Schönheit ist das Thema Heddas und ist auch das Thema von Vinge/Müller – eine Schönheit, die Abstand hält zum bürgerlich Guten. „Das Schöne, von dessen fixer Idee Hedda beherrscht wird“, schrieb Adorno über „Hedda Gabler“, „steht gegen die Moral, schon ehe es diese verhöhnt.“ Und weiter: „Der Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute war Aufruhr gegen die Güte. Güte selber ist die Deformation des Guten.“ Nicht, dass dieser Abend tiefere Erklärungen von Adorno braucht, aber dessen Gedanken zu Ibsens Radikalität lassen sich unmittelbar auf die Ästhetik von Vinge/Müller übertragen. Sie sind auf ihre Art von Schönheit besessen und schaffen Gesamtkunstwerke, in denen noch das kleinste Detail ihrer Aufführungen aus einem barocken und kunstgeschichtlichen Himmel der Formen, Klänge und Farben in eine zeitgenössische Mythenwelt übertragen werden. Strukturell ist es das Theater des digitalen Zeitalters, in dem Theater zu einer riesigen Konsole wird, in der alles in Echtzeit gespielt wird – mit der Power des Pop, von Kunst und Kino. Heddas fixe Idee der Schönheit ist auch die von Vinge/Müller und genauso ihr Dilemma.

Das Klavier, auf dem Ibsen Hedda im Hintergrund vor ihrem Selbstmord spielen lässt, hat sie an diesem letzten Abend der Osloer Vorstellungsserie bereits mit dem Beil zu Spänen zerhackt. Sie stirbt nicht im Off. Sie stirbt, nachdem der Vorhang sich wieder öffnete und die Puppe von Julian Assange in seinem Käfig Nr. 93 in London zeigt. Hedda stirbt, nachdem Großinquisitor Brack den widerspenstigen Løvborg vor einer Weltkarte ermordet und sein Blut in technische Phiolen spritzt und darin explodierende Blutblasen erzeugt. Auf einer parallelen Leinwand erscheinen Bilder von Atombombenexplosionen und Dokumente des Ukrainekrieges, begleitet von der Stimme des norwegischen Nato-Generals Stoltenberg, der mehr Geld und Entschlossenheit für die Rüstung und den Krieg fordert. In Vinge/Müllers Lesart geht die Rolle des Assessors Brack weit über die Geheimgesellschaft von Kubricks Männer-Loge hinaus. Er vertritt ein weltumspannendes System, das sich selber nährt und die Freien ins Verhängnis steuert.

Die Anonymous-Maske des Theaters

Das Unbehagen an der Hintergrundfigur von Assessor Brack ist der Motor der gesamten Aufführung. Sie widmet sich jener Struktur, die als Macht – im Gewand der privaten Güte – das Gute zerstört. Es ist nicht plump in Ibsens Stück zu beobachten, wie diese Macht die Løvborgs und auch Heddas unserer Gesellschaft an den Rand drängt und zerstört. Auch Vinge/Müller sind in den letzten zwei Jahren von Hasskampagnen rechter Identitärer öffentlich lächerlich gemacht und denunziert worden. Ihre Aufführung ist das Beispiel einer „Gegenarmee“ gegen diese Re-Traditionalisierung der nationalen Kultur. Seit den neunziger Jahren zeigt sie auf der Bühne eine andere Form von Geheimgesellschaft, die ebenfalls Masken trägt. Man weiß nicht, wer da gerade spielt. Es ist daher seltsam unangemessen, eine Schauspielerin wie Sofia Hagstad Su als Darstellerin der Hedda in einem Ensemble hervorzuheben, das auf der Bühne anonym bleibt – Männer spielen in Vinge/Müllers Stücken unter den Kostümen Frauen und umgekehrt: Es könnten Techniker oder Musiker sein, die auf der Bühne als Figuren erscheinen, genauso wie Schauspieler und Schauspielerinnen, weil hinter der Maske eine andere Form von Repräsentanz entsteht, die kollektiv ist und genauso machtvoll unnahbar, wie das „System“ – das Theatersystem wie das politische, auf das sie als künstlerische Gemeinschaft ästhetisch und politisch reagieren. Vinge/Müller wurden zu den Erfindern der Anonymous-Maske für das Theater, wie sie uns später auch aus den Arbeiten von Susanne Kennedy oder Ersan Mondtag entgegenschaut.

Die Aufführung in Oslo entstand unter Stadttheaterbedingungen in nur fünf Wochen Probenzeit. Das komplexe Worldbuilding von Vinge/Müller erzeugt einen Theater-Freiraum, der Ritual und Kunst vereinigt. Genau diese Ibsen-Invasion wollte Erik Ulfsby, der künstlerische Leiter des Theaters, an seinem Haus ermöglichen. Ohne das Know-how und die zwölf Übersee-Container voller Dekor und Kostüme aus 20 Jahren Ibsenforschung im Rücken könnte dies Vinge/ Müller nicht gelingen. Der enorme technische Aufwand und die experimentelle, hochvirtuose Andersartigkeit ihrer szenischen Praxis bewirkten bislang große Intervalle zwischen ihren Produktionen. Erik Ulfsby hat am Det Norske Teatret bewiesen, dass dies nicht der Fall sein muss. Am Ende der Aufführung schleppt der Sklave Jørgen Tesman die Manuskriptschnipsel Løvborgs auf die verwüstete Familienszene, und Hedda tötet dieses literarische „Kind“ ihrer Rivalin endgültig, bevor sie sich selbst tötet.

Am Schluss tötet die Aufführung sich schließlch selbst: Mehr als sechs Stunden währt der Todeskampf zwischen Schönheit und Dienstvertrag im Imperium Brack, das Publikum holt sich inzwischen ohne Ansage frische Getränke in den Saal, da erscheint plötzlich ein Bagger auf der Bühne.

Geführt wird die wendige Maschine vom norwegischen Weltmeister der Baggerkünstler, der mit seiner Schaufel zuvor im Fernsehen bereits Sektflaschen entkorkt hat. Er reißt vorsichtig, doch unerbittlich die Villa ein, in der Tante Julle bis zum Schluss die Wände streicht und Tesman die Fetzen von Løvborgs Manuskript zu seinem Werk ordnen will. Nichts von diesen Bemühungen im Imperium Bracks bleibt übrig an diesem Abend – mit vollendeter Baggerkunst wird die Szene zerlegt, nachdem Hedda sich in Großaufnahme die Kugel in den Kopf schoss. Aber wer erschießt Brack? //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York