Theater der Zeit

Thema

Wahrnehmungslücke?

Regie im solistischen Figurentheater

Die Berner Theaterwissenschaftlerin Franziska Burger hat sich mit der Rezeption von Solo-Inszenierungen im Bereich Figuren- und Objekttheater befasst. Dabei hat sie eine auffällige Lücke in der Wahrnehmung, speziell auch der journalistischen, festgestellt: In den meisten Besprechungen von Produktionen solistisch arbeitender Künstler*innen fehlt die Auseinandersetzung mit dem Anteil der Regie. Diesem Phänomen ist sie für double nachgegangen.

von Franziska Burger

Erschienen in: double 44: Regie? – Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick (11/2021)

Assoziationen: Akteure Schweiz Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Die Anlage des Objekttheaterklassikers „Drei kleine Selbstmorde“ ist vielen geläufig: Gyula Molnár sitzt alleine an einem Tisch, eine kleine italienische Kaffeemaschine, Streichhölzer, Kaffeebohnen, eine Kokosnuss, eine Uhr, ein Alkaseltzer und weitere Alltagsgegenstände sind um ihn versammelt. Alles in Griffnähe, so dass er weder auf andere Spieler*innen angewiesen ist noch auf Techniker*innen, denn auch die beiden Lampen über der Tischplatte werden während der Aufführung von Molnár via einem unter dem Tisch befestigten Schalter bedient. Das ganze Setup suggeriert, dass neben dem Spieler keine weitere Person am künstlerischen Prozess beteiligt ist – auch die Geschichte, so absurd, kann nur aus seinem Kopf entsprungen sein. Die Mitarbeit Francesca Bettinis, die Molnár bei den meisten Produktionen als künstlerische Partnerin unterstützt und bei den kleinen Selbstmorden die Regie übernahm, wird häufig nicht wahrgenommen und selbst in den Begleitmaterialien erschreckend oft nicht erwähnt (was eine stichprobenartige Recherche in die online gestellten Programmhefte und Ankündigungstexte der letzten Aufführungen bestätigte).

Das Beispiel mag überraschend wie extrem sein, doch zeigt es ein für Figuren- und Objekttheater spezifisches Problemfeld auf: Die Regie spielt in der Diskussion über Figuren- und Objekttheater kaum eine Rolle und wird – etwas polemisch ausgedrückt – gern unterschlagen. Gegenstand der Debatte – und dies beweist nicht zuletzt auch dieses ‚späte‘ Themenheft im Vergleich zu vorherigen double-Erscheinungen – sind meist Figurenführung, die Präsenz der Spieler*innen, die Gestaltung und Manipulation der Puppen und Figuren, der Effekt der eingesetzten Bühnentechnik, das Funktionieren der Dramaturgie oder der behandelte Stoff und dessen Umsetzung. Also nahezu alle Arbeitsbereiche ausgenommen der Rolle der Spielleitung bzw. der Regie. Woher kommt der geschilderte Wahrnehmungseindruck, dass solistisch agierende Theatermacher*innen Alleskönner*innen seien und entsprechend auf die Unterstützung einer außenstehenden Person als Regie verzichteten? Verweist das Fehlen einer Debatte über diese innertheatrale Funktion auf eine „fehlende“ Regie im Figurentheater? Oder auf eine Besonderheit der Kreation vor allem solistischer Inszenierungen im Figurentheater?

Regie und Kreation

Wenn nach Erika Fischer-Lichte, wie auch im Eingangsartikel dieses Heftes dargelegt, Regie als eine Form der Autorschaft verstanden wird, bei der sämtliche formalen Mittel vom Bühnenbild über Licht und Musik bis hin zum Schauspielstil so zu orchestrieren sind, dass sie im Zusammenspiel Ausdruck der eigenen schöpferischen Idee werden, dann entsteht im Falle der Zusammenarbeit mit Solist*innen – insofern die Interpretation aller Rollen und teilweise auch der Puppenbau in einer Person zusammenfallen – eine gewisse Ambivalenz: Denn im solistischen Figurentheater ist der*die Spieler*in in seinen*ihren Fächern nicht nur spezialisiert, sondern übernimmt, da er*sie meist auch die Ausgangsidee für die Inszenierung hatte, ebenfalls eine konzeptuelle Entscheidungsmacht und tritt in Bezug auf die schöpferische Arbeit als Ko-Kreateur*in auf. Dadurch verlagert sich die Rolle der Regie tendenziell zu der einer ordnenden Außenperspektive.

Viele Hüte tragen

Das Phänomen, dass eine Person in Personalunion einen Großteil der Funktionen wie Spiel, Puppenbau, Textschreiben, Dramaturgie, Lichttechnik, Ausstattung und Regie übernimmt, ist in anderen Formen der darstellenden Künste kaum so ausgeprägt und häufig anzutreffen wie im Figuren- und Objekttheater. Albrecht Roser, Philip Genty, Neville Tranter, Ilka Schönbein … : Viele der Wegbereiter*innen im Figurentheater sind bekannt dafür, dass sie vorwiegend solistisch arbeit(et)en und sowohl auf als auch hinter der Bühne mehrere Rollen (im wahrsten Sinne des Wortes) und Funktionen einnehmen.

Diese Arbeitsweise hatte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem strukturelle und finanzielle Gründe, war und ist jedoch fraglos auch künstlerisch motiviert. Die Inszenierung mit Puppen ermöglicht den Theatermacher*innen eine Form der Selbstbestimmung des künstlerischen Ausdrucks, die mit den Mitteln anderer Kunstformen so kaum umsetzbar ist: Nicht nur die eigene Rolle kann nach den eigenen Vorstellungen in Szene gesetzt werden, sondern auch alle anderen. Die Entwicklung der offenen Manipulation spielte dieser Tendenz in die Hände: Die Spieler*innen beginnen dabei auf der Bühne immer mehr Funktionen einzunehmen, treten auch als Erzähler*innen und Mitspieler*innen ihrer Figuren in Erscheinung. Dabei setzen sie die von ihnen animierten Figuren oder Objekte zugleich offen „in Szene“. Auch wenn es produktionsästhetisch eine Regie gibt, kommt rezeptionsästhetisch der Rolle der Solist*innen mehr Gewicht zu und drängt die Arbeit der Regie in den Hintergrund.

Einigen gegenwärtigen wie auch schon länger tätigen Spieler*innen, wie Neville Tranter, Nikolaus Habjan, Xavier Bobès oder Ilka Schönbein, die für ihr präzises Spiel wie auch die berserkerhafte Arbeitsweise bekannt sind, eröffnet das Spiel und die Inszenierung mit Puppen und Objekten die potenzielle Kontrolle über sämtliche künstlerische Entscheidungen und deren Umsetzung. Gerade dass sie mehrere Figuren – quasi das ganze künstlerische Ensemble – alleine darstellen, macht einen Teil der jeweils sehr spezifischen Arbeitsweise und Wirkungsästhetik aus. Die Anzahl der Hüte, die sie bei der Produktion tragen (Regie, Spiel, Dramaturgie, …), korrespondiert dabei auf gewisse Weise mit den zahlreichen Rollen, die sie auf der Bühne einnehmen.

Virtuosität überschreibt Regie

Dass bei dieser scheinbar personalarmen Arbeit eine Person als Regisseur*in im Hintergrund aktiv sein soll, passt nicht ganz ins Bild. Diesen Eindruck bestätigt auch ein kursorischer Blick in Rezensionen und Ankündigungen von solistischen Figurentheaterproduktionen: Als Beispiel wird die Produktion „Schicklgruber – Alias Adolf Hitler. Der letzte Tag in der Reichskanzlei“ aufgegriffen.1 Eine kurze Internetrecherche offenbart eine Fülle an Rezensionen und Ankündigungen, die im Kontext der Premiere wie auch Wiederaufnahmen erschienen sind und auf die immer noch zugegriffen werden kann.2 Ein genauer Blick offenbart: Auch wenn eine Regie involviert ist, wird sie in praktisch keinem der Texte erwähnt. Während im Programmheft zu der Premiere im Rahmen der Wiener Festwochen im Jahr 2003 Theo Fransz als Regie aufgelistet wird, Jan Veldman als Texter und Tranter verantwortlich für Konzept und Spiel, werden die beiden erstgenannten in den meisten journalistischen Besprechungen kaum genannt – und wenn, dann eher der Autor Veldman als der Regisseur Fransz. Eingegangen wird vor allem auf Tranters animatorische und darstellerische Fähigkeiten, auf seine Rolle als Führer-Adjudant Heinz Linge und die Gestaltung der Puppen. Die Presseberichte vermitteln so den Eindruck, dass er alleine Schöpfer dieses Werkes sei, das stark von seinem als virtuos beschriebenen Spiel und der Faszination der von ihm gestalteten Puppen lebt. An diesem Beispiel zeigt sich noch einmal deutlich die Überschreibung der Regie durch die Virtuosität und Strahlkraft der Spieler*innen.

Nicht nur durch die Präsenz und den unbestritten großen schöpferischen Anteil der Solist*innen gerät also die Regie (und manchmal das ganze Produktionsteam) aus dem medialen Blick, sondern auch durch die Bereitschaft, in Figurentheater-Kritiken der darstellerischen Virtuosität alle anderen Aspekte einer Inszenierung unterzuordnen.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, dass Regie in sonstigen Formen des gegenwärtigen Figurentheaters bzw. dessen Wahrnehmung durchaus eine wichtige Rolle spielen kann. Mit Nis Søgaard, Gisèle Vienne oder Nikolaus Habjan seien nur einige Namen genannt, die sich mit ihren Regiearbeiten einen Namen gemacht und international besprochen werden. Aber das wäre ein anderer, noch zu schreibender Artikel ...

1 Tranter führt in den vergangenen Jahren bei seinen Produktionen vorwiegend selber Regie. Auch wenn das ausgewählte Beispiel bereits fast zwei Jahrzehnte zurückliegt, sind die Ergebnisse der Recherche aufgrund des langjährigen Verbleibs des Stücks im Repertoire von Tranter – und somit auch dessen wichtiger Position im Kanon – doch relevant für die Auseinandersetzung mit der Rolle der Regie im solistisch praktizierten Figurentheater der vergangenen Jahre.

2 Als beispielhaft sind die folgenden drei Rezensionen vom Standard, Tagesspiegel und dem Edinburgh Guide zu werten: https://www.derstandard.at/story/1331931/holzkopf-hitler https://edinburghguide.com/reviews/schicklgruber-alias-adolf-hitler-traverse-theatre-review-11952geben kann. https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-tod-das-muss-ein-diener-sein/411330.html

Neville Tranter’s Stuffed Puppet Theatre, Schicklgruber – Alias Adolf Hitler. Der letzte Tag in der Reichskanzlei. Foto: Fidena Archiv 2003. © Theater

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